Einfach losgehen

Stephan Strzyzowski
10.10.2018

Wie findet man Lösungen für Probleme, die man noch gar nicht kennt? Sicherlich nicht durch Gleichmacherei und den Fokus auf Schwächen, meint der Genetiker und Querdenker Univ.-Prof. Markus Hengstschläger. Ein Plädoyer für einen Systemwechsel und dafür, so richtig aus der Reihe zu tanzen.

Die digitale Transformation wird unsere Welt radikal verändern, wir wissen nur noch nicht genau, wie. Wie gestaltet sich diese Entwicklung aus Sicht eines Grundlagenwissenschafters?
Was mich oft stört, ist der allzu pessimistische Schluss, der aus der Entwicklung gezogen wird. Ist es wirklich so, dass so viele Jobs wegfallen werden? In Wahrheit wissen wir es nicht genau. Wir wissen nur, dass wir uns entsprechend vorbereiten sollten.

Tun wir das gut genug?
Ich fürchte, wir haben zu wenige echte Pioniere und Vordenker. Wenn jemand wie Ray Kurzweil von Google Konzepte für die Unsterblichkeit vorlegen will oder wenn Elon Musk den Mars besiedeln möchte oder wenn Craig Venter sagt, dass er Leben künstlich erschaffen wird, kann man immer fragen: Wird’s das wirklich geben? Klappt das? Vielleicht nicht, aber darauf kommt es noch nicht einmal so sehr an.

Und worauf kommt es an?
Darauf, dass Abwarten nicht die richtige Strategie ist. Wir müssen uns flexibel und mit offenen Augen auf den Weg machen – selbst dann, wenn das Ziel nicht leicht erreichbar scheint. Es geht um Serendipität – darum, etwas zu finden, das man nicht gesucht hat. Das geht aber eben nicht, wenn man sich nicht auf den Weg macht. Jene, die nur abwarten, werden letztendlich viel Geld zahlen müssen – auch für Innovationen, die andere zufällig gefunden haben. Das gilt vor allem auch für die Wirtschaft: Die Firmen müssen jetzt loslegen. Wir wissen nicht, wie sich Internet of Things, Industrialisierung 4.0 etc. auswirken werden, aber wenn wir die Hände in den Schoß legen, aus Angst, nicht sofort die perfekte Lösung zu finden, werden wir das Nachsehen haben.

Haben Sie nicht den Eindruck, dass die Themen aktuell intensiv diskutiert werden, dass viele Menschen sich Gedanken machen?
Geredet, diskutiert und Ängste vor der Zukunft geschürt wird in der Tat viel – aber was wird getan? Da hört man zu oft: Schauen wir mal. Lassen wir einmal die anderen gehen, damit die anderen auch die Fehler machen.

Der Mensch wird schon sehr bald aufgrund des Klimawandels mit dem Rücken an der Wand stehen. Überrascht uns diese Situation evolutionär betrachtet wirklich so eiskalt, wie es scheint?
Die Konsequenzen des Klimawandels sind vorhersehbare Zukunft – darauf muss heute konsequent und rasch reagiert werden. Punkt. Wir müssen uns aber zusätzlich auch auf unvorhersehbare Zukunftsaspekte vorbereiten. Grundsätzlich ist die Evolution ein Konzept, das auch auf Diversität basiert. Es ist immer das genetische Rüstzeug, das sich in Wechselwirkung mit der verändernden Umwelt befindet. Würde sich nichts ändern, würde vielleicht auch niedrigere Diversität und höhere Stabilität funktionieren. Aber es kommen permanent auch Fragen auf uns zu, die wir nicht vorhersehen konnten. Die Schlüssel sind Diversität, Flexibilität und Individualität. Aber Wirtschaft und Gesellschaft sagen heute vielleicht noch zu oft: Es läuft eh, also nix ändern! Aber wenn neue Fragen und Veränderungen kommen, ist ein System mit vielen individuellen bereits erarbeiteten Varianten besser gerüstet. Unser Blick muss einfach weiter in die Zukunft reichen. Wenn wir nicht aufhören, Entscheidungen zu fällen, die nur für den Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, gut sind, wird es sehr eng.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass wir aus der Gesamtheit der Fakten keine Konsequenzen ziehen?
Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist auch, dass viele die Fakten gar nicht kennen. Ein anderer ist, dass viele den Wahrheitsgehalt von Aussagen nicht nach der Beweislage, sondern nach Likes bewerten. Wissen muss immer gegenüber kommunizierter Information, die zwar heute leicht über Google, Facebook, Twitter und Co verbreitet werden kann, aber nicht notwendigerweise stimmen muss, die Nase vorn haben. Wenn die Evolutionstheorie aus so manchen Lehrbüchern in den USA gestrichen wurde, dann ja nicht, weil sich das Wissen darüber geändert hätte, sondern weil sie dort nicht entsprechend gelikt wird.

Wie können wir Halbwissen und alternative Fakten überwinden?
Was wir brauchen, ist Bildung, Forschung, gute Instrumente zur Selektion der Informationsflut und das Engagement, sich ernsthaft mit einem Thema auseinandersetzen zu wollen. Geschwindigkeit, Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit verursachen oft, dass zu viele etwas für bewiesenes faktenbasierendes Wissen halten, obwohl man nicht einmal mehr die Quelle ausmachen kann und es eigentlich nur schnell verbreitet wurde.

Sie sagen, dass der Durchschnitt die größte Gefahr für eine erfolgreiche Zukunft ist. Warum sehen Sie das so?
Dazu eines vorweg: Ich habe nichts gegen den Durchschnitt an sich. Er wird nur viel zu oft zur Gleichmacherei verwendet. Es gibt aber den Durchschnittspatienten oder den Durchschnittskunden nicht. In der Medizin ist die entsprechende Gegenströmung „Präzisionsmedizin“ – die eigentlich zum Ziel hat, jeden Patienten, jede Patientin möglichst individuell behandeln zu können. Zu oft wird argumentiert: Wenn es alle machen, kann es ja so falsch nicht sein. Solch ein Ansatz erzeugt aber nichts Neues. Wenn wir neue Lösungen für die Zukunft schaffen wollen – und die brauchen wir aktuell dringend –, dann benötigen wir hohes Innovationspotenzial. Dazu braucht es den Mut, einen alten Weg auch zu verlassen, um eben einen neuen zu gehen. Und es braucht eine entsprechende Fehlerkultur. Jemand macht denselben Denkfehler wie 20 andere im Unternehmen, aber weil man damit eventuell im Durchschnitt liegt, macht es nichts. Wenn man aber der eine ist, der etwas Neues beziehungsweise anderes macht und sich vielleicht eben auch einmal dabei irrt, geht man eventuell sogar das Risiko ein, dadurch letztendlich sogar Nachteile daraus zu haben. Das müssen wir ändern.

Was macht denn unser Bildungssystem falsch?
Wir kommen nicht dadurch zu Innovationen, dass wir uns auf das Korrigieren unserer Schwächen konzentrieren.

Tun wir das denn?
Die Grundidee ist nicht richtig: Wenn ein Kind mit einer schlechten Note heimkommt, muss man sie verbessern. Hat es eine gute Note in einem Fach, gibt es keinen Handlungsbedarf? Um Ideen, neue Wege, Kreativität, Motivation und Innovationsgeist zu heben, müssen wir aber bei den Schwächen einen Verzicht erlauben und sollten dafür nicht mehr Zeit als nötig einsetzen – es reicht dabei oft ein gewisser Grundstandard. Aber bei den Stärken müssen wir auf echte Förderung setzen. Das führt zu Motivation, Erfolg und Innovation.

Wie sehr ist intellektuelles Leistungsvermögen im Menschen angelegt? Ist die Vorstellung, dass jeder alles schaffen kann, aus Ihrer Sicht zutreffend?
Der Mensch ist so gut wie nie auf seine Gene reduzierbar, außer bei bestimmten Erkrankungen. Er ist immer das Produkt der Wechselwirkung von Genen und Umwelt. Es braucht immer harte Arbeit – „extra miles“ – für den Erfolg. Aber eines ist wichtig: Es ist die Aufgabe eines Bildungssystems, nicht nur den Grundstock an Wissen zu vermitteln. In Wirklichkeit muss es auch das Ziel sein, die Neigungen und Talente jedes Individuums zu suchen und zu fördern. Jeder Mensch, unabhängig vom Einkommen oder vom akademischen Titel seiner Eltern, muss ein Recht darauf haben, dass wir uns professionell auf die Suche nach seinen Begabungen, Neigungen, Talenten machen. Und wenn man dann weiß, was man kann, weiß man auch, was man nicht kann. Dafür muss man ein Team bilden können mit jenen, die das können, was man selbst nicht kann. Hier geht es um das Erlernen von Teamfähigkeit, um soziale Kompetenz und vieles mehr.

Sie brechen damit eine Lanze für die Individualität. Welche Bedeutung hat sie, und warum sehnt sich der Mensch so stark nach dem Durchschnitt, wenn er uns so wenig weiterbringt?
Es ist mir wichtig zu sagen, dass Individualität auch nur im Team wirklich gut funktioniert. Stellen Sie sich vor, wir positionieren zwei Kinder in einen Turnsaal, die Bälle fangen sollen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Damit sie mehr Bälle fangen, dürfen sie erstens nicht an derselben Stelle stehen. Und zweitens werden sie nur als Team – wenn also jeder gefangene Ball für beide zählt – besser und schaffen mehr. Das ist eine der wichtigsten Kompetenzen in der Wirtschaft. Das richtige Team aus denen zu bilden, die etwas Unterschiedliches können. Es geht darum, Stärken und Schwächen zu ergänzen.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass trotz aller Hemmnisse auch weiterhin Menschen aufstehen werden und Lösungen finden?
Es wird sicherlich die Individualität in Teams sein mit der Kombination aus vielen verschiedenen Begabungen, die solche Lösungen herbeiführen. Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, müsste man eigentlich guter Dinge für die Zukunft sein. Denn der bereits geleistete Fortschritt ist enorm. Menschen sind grundsätzlich neugierig. Wir brauchen jetzt nur die entsprechenden Rahmenbedingungen, das Empowerment, die richtige Stimmung, damit die richtige Einstellung dazu nicht abnimmt und auch viele den Mut aufbringen loszugehen – dann werden wir Gesuchtes und auch durch Serendipität Nichtgesuchtes finden, um damit die Fragen der Zukunft beantworten zu können.

ZUR PERSON

Markus Hengstschläger promovierte mit 24 Jahren mit Studienverkürzung und Auszeichnung zum Doktor der Genetik. Danach arbeitete er an der Yale University in den USA, wurde mit 29 Jahren außerordentlicher Universitätsprofessor und wurde mit 35 Jahren zum Universitätsprofessor berufen. Heute leitet er das Institut für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien und ist auch als Unternehmer in den Bereichen genetische Diagnostik, Forschung und Entwicklung sowie Innovationsberatung tätig. Hengstschläger berät zudem Regierungen und Firmen, er ist Wissenschaftsmoderator auf ORF Radio Ö1 und Autor von drei Platz-eins- Bestsellern („Die Macht der Gene“, „Endlich unendlich“ und „Die Durchschnittsfalle“), die auch jeweils zu den beliebtesten Sachbüchern des Jahres gewählt wurden.

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