Bauboom in Kanada nutzen
Von seinem Office in achten Stock eines Torontoer Büroturms blickt der Kärntner Gerald Skalla auf eine riesige Baugrube herab. Riesig heißt hier wirklich riesig: Dort entsteht eine neue unterirdische Straßenbahnstation. Warum keine U-Bahn? Skalla lächelt vielsagend. Die hätte noch mehr gekostet. Toronto wächst schwindelerregend schnell. Im engeren Stadtkern leben drei Millionen Menschen, im „Greater Toronto Area“ (GTA) mehr als doppelt so viele. Wie in Vor-Corona-Zeiten siedelt sich ein Drittel der jährlich 400.000 kanadischen Einwanderer in der Metropole am Lake Ontario an. So schnell die Stadt wächst, so sehr hinkt ihre Infrastruktur nach. Es gibt gerade mal zwei U-Bahn-Linien, keine fährt bis zum Flughafen. Beharrlich investierten frühere Stadtväter in den Individualverkehr – noch breitere Straßen, noch mehr Parkplätze. Selbst als andere Weltstädte längst dem öffentlichen Verkehr den Vorrang gaben, hielt Toronto an seiner Auto-vor-Strategie fest.
Das änderte sich 2018, als Douglas Ford jun. Premierminister der Provinz Ontario wurde. Ford verordnete Toronto ein höchst ambitioniertes Modernisierungsprogramm und steckte auch Milliarden in den öffentlichen Verkehr. Mehrere unterirdische Straßen- und U-Bahnlinien entstehen gleichzeitig, bestehende werden verlängert. In ein paar Jahren wird man endlich mit der Bim zum Flughafen fahren können. Hier kommt Gerald Skalla ins Spiel. Der 50-Jährige ist Country-Manager von Dr. Sauer & Partners, jenem Tunnelplanungs- und Beratungsunternehmen, dessen Gründer vor mehr als 30 Jahren die New Austrian Tunneling Method (NATM) nach Nordamerika brachte. Deren Vorzüge im innerstädtischen Tunnelbau sind bis heute unbestritten. Nach Projekten in Edmonton und Ottawa gewann der TU-Graz-Bauingenieur nun auch den prestigeträchtigen Auftrag in Toronto.
Kanadier sind keine Häuselbauer
Nicht nur unter, auch über der Erde wird eifrig gebaut. Die typischen Torontoer Zweifamilienhäuschen entlang der Hauptstraßen müssen kantigen Wohntürmen für viele hundert Mieter weichen. Diesen Zuwachs bewältigen wiederum die alten Wasser- und Abwasserleitungen und die Stromanlagen nicht. Die Nachfrage nach Unternehmen, die sich mit Bau und Infrastruktur auskennen, ist gewaltig. Für alle, die nun hellhörig sind: Österreichisches Know-how lässt sich nicht eins zu eins nach Kanada übertragen. Erstens wird dort völlig anders gebaut. Nicht mit Ziegeln, sondern als Holz-Metall-Rahmen, an denen innen Dämmstoffe und außen allerlei Verkleidungen angebracht werden. Zweitens, Architektenkonsortien mit einiger Marktmacht entscheiden über Zulieferer und Material. Mit den gewohnten D-A-CH-Vertriebsstrukturen kommt man nicht weit. Das gilt auch für B2C. Wir haben zwar das Klischee vom patenten Kanadier im Holzfällerhemd und mit umgeschnalltem Werkzeuggürtel im Kopf, aber den gibt es nur auf dem Land. Städtische Hausbesitzer rühren keinen Finger. Sie heuern „Contractors“ an, die wieder über Zulieferer und Material entscheiden. Sie gilt es ins Boot zu holen, nicht die Endkunden, auch wenn OBI-ähnliche Baumärkte wie Canadian Tire das Gegenteil suggerieren.
Blaupause für den Markteintritt
Dr.-Sauer-Kanada-Chef Skalla musste nicht bei null beginnen. Er lebte bereits ein paar Jahre in den USA, das erleichterte ihm den Markteinstieg. „Wir hatten schon kanadische Partnerfirmen. Wenn wir gesagt hätten, wir kommen aus Österreich und wir können alles besser – das hätte nicht funktioniert.“ Tätige Hilfe bekam Skalla von der Außenwirtschaft Austria. Er war auch willkommener Begleiter der heimischen Strabag: „Die etablierten Konzerne nehmen gern kleinere Unternehmen mit.“ Wie ein Markteintritt funktionieren kann, lässt sich am Beispiel von Weltmarktführer Doka gut nachvollziehen. Stichwort: Such’ dir eine Nische mit viel Umsatzpotenzial und einem Schmerzpunkt beim Kunden, selbst wenn diese Nische nicht dein Kerngeschäft ist. Dokas Kerngeschäft sind Betonschalungen für alles, was in Gebäuden betoniert wird – Stiegenhäuser, Liftschächte, Betonwände und -decken. Gegründet wurde die kanadische Doka-Niederlassung 2007 anlässlich des Baubooms um die Olympischen Spiele in Vancouver 2010. Damals war der heutige Country-Manager Markus Mitterlehner ähnlich wie Skalla in den USA stationiert und sollte von dort den ostkanadischen Markt aufrollen. Spoiler: Er blieb nicht mehr lange in den USA. Erst machte er sich mit prestigeträchtigen Projekten wie dem Shangri-La Hotel in Toronto einen Namen. Daneben suchte er Tätigkeitsfelder, wo es aus Auftraggebersicht großen Bedarf, aber wenig Angebot gab. Mitterlehner fand sie in Wasserkraftwerken, die in entlegenen Gebieten entstehen sollten: im kalten Neufundland und im einsamen Norden von Manitoba und British Columbia. „Unser Markteintritt gelang, weil wir uns auf die Abgeschiedenheit und die Distanzen von diesen Großprojekten einließen.“ Die Entfernungen sind in Kanada gewaltig, das Straßennetz abseits der Highways nur wenig ausgebaut. Erst mussten Zufahrten und Stromleitungen zu den künftigen Kraftwerksstandorten gelegt werden. Als die dann in Betrieb gingen, hatte Mitterlehner, inzwischen Chef der Kanadatochter, längst neue Aufträge in der Tasche. Auch er schneidet am Hochbau-Boom in den Metropolen mit. Kürzlich startete er die Arbeiten am höchsten Büroturm Torontos, dem 338 Meter hohen „The One“, der die Skyline merklich verändern wird. Sieben von 94 Stockwerken stehen bereits – „wir haben noch einen weiten Weg vor uns“.
Mitterlehner baut nicht nur in Toronto, auch in Vancouver, Calgary, Edmonton, Québec City und Montréal. Die beiden letzten sind wegen ihres speziellen französischen Dialekts und einem Mehr an Bürokratie herausfordernder. Hotels rückten mit der Pandemie in den Hintergrund, jetzt mischt er bei Wohn- und Bürotürmen mit, verschalt sanierungsbedürftige Brücken und Tunnel für die unterirdischen Bahnen und die Abwassersysteme: „Riesige unterirdische Schächte, in die die kleinen Schächte aus den Straßen zugeleitet werden. Das ist wirklich viel Beton.“
Samthandschuhe für das Team
Natürlich hätte die Umdasch-Tochter Doka eine lokale Organisation mit lokalem Management aufziehen können: „Aber dann hätten wir zum Start keine Kontrolle gehabt.“ Die Entscheidung fiel für eine österreichische Führung und ein internationales bzw. Expat-Team. Mitterlehner hatte Glück: Zeitgleich verlangsamte sich der Bauboom im Mittleren Osten, einige erfahrene Manager kamen gern nach Kanada. Das übrige Team besteht aus jungen Kanadiern unterschiedlichster Herkunft und aus neuen Zuwanderern. In der Führung aber braucht es übrigens Samthandschuhe. Skalla: „In Österreich spricht man aus, was gut und was schlecht lief. Hier spart man sich den zweiten Teil.“ Kritik drückt man sehr dezent aus. Maximal als „Room for Improvement“.
Gründen in Kanada
Doppelinterview mit Eva Gludovatz (oben), Trade Relations Officer bei der Außenwirtschaft Austria, und mit Monica Schirdewahn (unten), Anwältin bei der Kanzlei Lette & Associés.
Wenn man gründen will: Was ist besonders in Kanada?
Eva Gludovatz: Man sollte sich Kanada nicht als ein Land vorstellen. Besser ist der Vergleich mit der Europäischen Union: Kanada besteht aus zehn weitgehend autonomen Provinzen mit eigener Gesetzgebung und drei von der Bundesregierung gesteuerten Territorien. Man wägt sorgfältig ab, wo man startet: In Québec etwa, wenn man in Luftfahrt, Software-Entwicklung, künstlicher Intelligenz oder Elektromobilität tätig ist, in Ontario wegen der Autoindustrie, in British Columbia und in Nova Scotia wegen der Holzindustrie.
Sollte man auf Bundesebene gründen oder auf Provinzebene?
Monica Schirdewahn: Es ist möglich, eine Firma unter Bundesrecht oder unter Provinzrecht zu gründen. Letzteres kann Vorteile für ausländische Investoren haben. Man kann eine Tochter der österreichischen Muttergesellschaft gründen oder eine kanadische Holding unter der österreichischen Mutter und darunter die Tochter. Das hat meist steuerliche Gründe.
Eva Gludovatz: Man muss auch unterscheiden zwischen Gründen und Sich-registrieren-Lassen. Gründen geht schnell, das läuft online. Man braucht kein Mindestkapital und haftet nicht persönlich. Man braucht nur einen Hauptsitz in einer Provinz, es genügt eine Adresse ohne eigenes Büro. Sich zusätzlich in anderen Provinzen zu registrieren ist meistens nur dann nötig, wenn man dort eine echte physische Präsenz hat, etwa ein Büro, Mitarbeiter oder ein Lager.
Was ist der größte Unterschied in rechtlicher Hinsicht?
Schirdewahn: Nur in Québec gibt es einen „Code civil“ wie in Frankreich. Im Rest Kanadas gilt das auf britischem Recht basierende „Common Law“. Dort schauen sich die Richter im Streitfall frühere Präzedenzfälle an. Deshalb sind Verträge hier sehr lang, weil man sich fast alles vertraglich aushandeln kann, von Lieferzeit bis Zahlungsbedingungen.
Gludovatz: Damit tun sich viele Österreicher schwer, weil sie gewohnt sind, sich auf das Gesetz zu verlassen und kürzere Verträge zu verfassen.
Welches Recht gilt, wenn ich Mitarbeiter entsenden will?
Schirdewahn: Immigrationsrecht gilt auf Bundesebene. In der Regel brauchen alle eine eTA (electronic Travel Authorization). Wer nur als Geschäftsreisender kommt, braucht wie ein Tourist sonst keine weitere Erlaubnis. Im Regelfall darf er sich dann ein halbes Jahr in Kanada aufhalten. Wer aber in Kanada arbeitet, benötigt eine Work Permit, in bestimmten Fällen selbst dann, wenn er für eine österreichische Gesellschaft arbeitet. Die Grundregel ist, dass der Arbeitgeber beweisen muss, dass kein Kanadier seine Erfordernisse erfüllt. Das ist nicht immer einfach. Es gibt jedoch vereinfachte Verfahren für Mitarbeiter, die innerhalb derselben Firmengruppe transferiert werden („intra-company transfer“). Dazu müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein.
Gludovatz: In der EU gehen wir davon aus, dass es unser Recht ist, überall arbeiten zu dürfen. Hier in Kanada arbeiten zu dürfen gilt als Privileg. Dessen sollte man sich bewusst sein.