Franz Josef Radermacher

Weil wir die Guten sein wollen

Nachhaltigkeit
23.03.2022

Neue Zwänge, gigantische Investitionen, enorme Schulden und Verzicht: Laut Prof. Franz Josef Radermacher geht Europa bei der Bewältigung des Klimawandels einen falschen Weg. Wer davon finanziell profitiert und welche Alternativen sich bieten, erklärt der Globalisierungsexperte im Interview.
Prof. Franz Josef Radermacher im Portrait
Prof. Franz Josef Radermacher im Portrait

Auch aufgrund des Ukraine-Kriegs will sich Europa jetzt rasch unabhängig von Gasimporten machen. Welche Rolle spielen fossile Energiequellen in diesem Konflikt? Dieser Krieg hat viele Seiten. Historisch betrachtet muss man anerkennen, dass die Sowjetunion keinen Krieg verloren hat. Sie hat sich freiwillig aufgelöst. Sie hätte damals die Freigabe der Ukraine mit bestimmten Regelungen verknüpfen können. Etwa damit, dass die Ukraine neutral sein muss und die Krim zu Russland gehört. Das ist nicht geschehen. Stattdessen gab es im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung gewisse Zusagen der westlichen Seite. Die NATO sollte sich nicht ausdehnen und auch nicht die Ukraine aufnehmen. Jetzt will davon niemand mehr etwas hören.

Woran liegt das? Die deutsche Außenministerin Annalena Baer­bock hat erst kürzlich zu erkennen gegeben, dass Russland zur Strafe verarmen soll. In ihrem Weltbild sind russisches Gas und saudisches Öl dreckig und sie waren schon vor dem Krieg grundsätzlich abzulehnen. Sie und viele andere Politiker vertreten die Sicht, dass jetzt alles auf erneuerbare Energien umgestellt werden muss. Mit Begriffen wie Energieautarkie, Resilienz, Windräder als „Friedensenergie“ wird dieses Programm unter die Menschen gebracht.

Und diese Ansicht teilen Sie nicht? Nein, vor allem weil nun völlig ausgeklammert wird, dass wir selbst unseren Wohlstand in den letzten 70 Jahren auf fossile Energieimporte aufgebaut haben. Ebenfalls wird die Tatsache ausgeklammert, dass durch die Carbon-Capture-Technologie, also die CO2-Abscheidung und -speicherung bis zu 95 % der CO2-Emissionen, die bei der Nutzung fossiler Brennstoffe zur Stromerzeugung und durch industrielle Prozesse entstehen, aufgefangen und dauerhaft unterirdisch gespeichert werden können.

Rein aus Klimasicht müsste man also nicht auf fossile Energien verzichten? Nein, allenfalls nur zu einem Teil. Diese Sicht ist darum auch in der Position des letzten G20-Gipfels in Rom enthalten. Ohnehin kann die Welt überhaupt nicht von jetzt auf gleich aus den Fossilen aussteigen. Indien­ kann und wird zum Beispiel nicht einmal mittelfristig aus Kohle, Öl und Gas aussteigen – China ebenso wenig. Doch sie werden das CO2 zu weiten Teilen abfangen und einlagern. Auf diese Weise können sie ihre Ressourcen nützen, Wohlstand generieren und die Umwelt schützen. Dass es diese Möglichkeit gibt, wird aber in Europa weitgehend totgeschwiegen. In dieser Verleugnung steckt aber natürlich eine Art ökonomische Aggression gegen alle Länder, die davon leben, dass sie fossile Energieträger verkaufen. Und ich mag mir nicht vorstellen, was alles passieren wird, wenn Russland und andere in existenzielle ökonomische Schwierigkeiten geraten würden.

Wird Carbon-Capture bereits im großen Maßstab erfolgreich angewendet? Carbon-Capture findet zum Beispiel in den USA und Norwegen im größeren Maßstab statt. Das CO2 wird in schon teilweise ausgebeutete Öl- und Gasfelder geleitet, wo es gespeichert wird. Die Verwahrung ist sicher. Und gleichzeitig kann dadurch mehr aus den Feldern gefördert werden. So wird der Prozess finanziert und so entsteht ein Kohlenstoff-Kreislauf.

Prof. Franz Josef Radermacher im Portrait

Wenn Europa tatsächlich an der raschen und weitgehenden Abkehr von fossilen Energieträgern festhält: Welche politischen Konsequenzen ergeben sich daraus? Europa bereitet dadurch Russland, Saudi-Arabien, dem Iran und anderen exis-tenzielle Probleme, vor allem, wenn die dahinterstehende Philosophie weltweit aufgegriffen werden sollte. Wenn wir das tun, werden wir richtig Ärger bekommen. Dagegen sind die heutigen Verwerfungen in der Ukraine niedrigschwelliger. Man muss doch naiv sein, wenn man glaubt, dass man Ländern wie Russland ungestraft den Geldhahn zudrehen kann! Es gibt aber Stakeholder und Politiker, die alle gewachsenen Beziehungen gerne beenden wollen, weil sie Energieautarkie auf Basis der Erneuerbaren fordern. Sie wollen, dass von vornherein überhaupt kein CO2 mehr freigesetzt wird, damit man es nicht abfangen muss. Egal, wie teuer das wird, wollen sie sich nur noch auf den Erneuerbaren abstützen.

Welche Interessen verfolgen die USA bei dieser Entwicklung? Die Amerikaner agieren geopolitisch. Für sie ist Russland ein großer Faktor, den es ökonomisch zu schwächen gilt. Natürlich wollen sie gleichzeitig Europa ihr Gas verkaufen, das sie in flüssiger Form nach Europa liefern. Übrigens zu weitaus höheren Preisen als das Gas aus Russland. Sie haben durchaus ein Interesse daran, dass sich die Kluft zwischen Europa und Russland vergrößert.

Wenn sich die europäischen Länder unabhängig von Gas­importen machen wollen, wird Flüssiggas aus den USA aber auch keine langfristige Lösung sein. Die strikten Defossilisierer wollen natürlich auch keine Gasimporte aus Amerika. Sie sind davon überzeugt, dass alle Fossilen in der Erde bleiben sollen. Egal, woher sie stammen. Sie wollen übrigens auch nicht gerne grünen Wasserstoff aus Afrika importieren, der mittels Solarenergie gewonnen werden kann. Das wäre ein neuer „Kolonialismus“. Denn Afrika soll zuerst selbst die Energiewende schaffen. Worüber nicht gesprochen wird, ist, dass die Afrikaner ihre Transformation überhaupt nicht bezahlen können, wenn wir keine Energie abnehmen. Doch wenn sie arm bleiben, hilft das dem Klima am meisten. Aber das sagt niemand. Der Lösungsansatz vieler konsequenter „Grüner“ für das Weltklima liegt aber mittlerweile ohnehin darin, dass der globale Süden relativ arm bleibt und dass auch der Wohlstand unserer eigenen Bevölkerung sinkt. Dabei hilft nun der Krieg. Die Logik lautet: Wegen Putin müssen wir alle Opfer bringen und das müssen wir ohnehin auch tun, um das Klima zu retten. Materiell soll das durchgesetzt werden wie die Coronamaßnahmen, nämlich via Klima-Lockdown. Die Story geht wunderbar auf. Aber diese Story trägt ein massives Konfliktpotenzial in sich.

Wie könnte eine sinnvolle Lösung aus Ihrer Sicht aussehen? Man sollte die Erneuerbaren in Richtung Verdoppelung des aktuellen Niveaus ausbauen. Zeitgleich muss man auch Gas zur Stromproduktion ausbauen. Denn die Erneuerbaren sind hochvolatil. Wenn man dann beim Gas auch noch das CO2 abfängt, wäre man klimaneutral. Doch durch den Konflikt mit Russland hat dieser Lösungsansatz viele Fragezeichen bekommen. Ich glaube, dass man diesen Kurs trotzdem fahren wird. Nur wird Europa vermutlich das Gas nur noch in geringem Umfang von Russland kaufen. Obwohl es aus Kostengründen besser wäre, es dort zu kaufen. Auf diese Weise würden wir auch nicht unseren bisherigen Lieferanten das „Messer“ an den Hals setzen.

Wer profitiert in Europa vom Ausstieg aus den Fossilen? Zum Beispiel die erneuerbaren Energieproduzenten. Sie wollen natürlich ihre Kapazitäten weiter und weiter ausbauen. Die verdienen damit sehr viel Geld bei hoher regulativer Förderung. Diese Transformation ist nicht billig, sondern im Gegenteil teuer für die Bürger. Wir haben in Deutschland die höchsten Strompreise in Europa. Um all das zu finanzieren, „druckt“ der Staat Geld. Wir machen gigantische Schulden. Das läuft alles auf Kredit. Und die Produzenten der erneuerbaren Energie profitieren natürlich davon.

Die steigenden Energiepreise liegen auch daran, dass fossile Produktionsstätten aufgelassen werden, während der Bau von Windkrafträdern, Wasserkraftwerken und großen PV-Anlagen häufig im Namen des Naturschutzes verzögert oder sogar verhindert wird. Wie will die Politik aus diesem Widerspruch herauskommen? Indem der Staat entsprechende Zwänge erzeugt und Gesetze erlässt. Viele Bürger wollen zwar kein Windrad in ihrer Gemeinde. Aber jetzt werden die Einspruchsmöglichkeiten stark reduziert und der Naturschutz wird per Gesetz nach hinten gestellt. Die Länder müssen nun in den Staatswäldern Standorte für Windräder ausweisen und der Zubau wird massiv gefördert. Genauso wird Photovoltaik gepusht. Auf jedes Dach soll zukünftig einmal bei einem Neubau eine Anlage installiert werden. Gasheizungen sollten weg und durch Wärmepumpen ersetzt werden. Genau das ist es, was passieren soll. Doch all das nutzt nichts, wenn man die weltweiten Klimaprobleme betrachtet.

Prof. Franz Josef Radermacher im Portrait

Warum nicht? Weil das Problem der weltweiten CO2-Emissionen in Afrika und in Indien entschieden wird. Aber dort engagieren wir uns nicht. Wir setzen lieber hier auf teure Lösungen, die nicht exportierbar sind. Das Elektroauto ist nicht die Lösung für die Welt. Wir arbeiten in Europa nur an punktuellen Lösungen, damit wir uns einreden können, dass wir die Guten sind und „Buße“ tun. Deswegen muss es uns wehtun. Dieser Ansatz mutet fast religiös an. Wir haben „Mutter Erde“ verletzt und uns versündigt. Und nun reden wir uns ein, dass weniger mehr ist. Wir sollen dazu akzeptieren, dass unser Beitrag darin liegt, dass wir Opfer bringen und der Welt damit zeigen, dass das möglich ist. Dann müssen die Armen auch nicht viel reicher werden, weil ja auch die Reichen wieder ärmer werden. Doch meiner Ansicht nach wird dies das Klimaproblem nicht lösen. Die Armen werden alles tun, um Wohlstand zu erlangen und dafür ihre Fossilen nutzen. Das ist ihnen laut Paris-Vertrag auch erlaubt. Deswegen ist Verzicht in Europa als dominantes Programm der falsche Fokus: zu wenig Klima­wirkung für das viele eingesetzte Geld.

Ich sehe am Horizont Gefahren bis zum Bürgerkrieg.

Franz Josef Radermacher

Glauben Sie, dass die Bürger Europas überhaupt bereit wären, diesen Kurs mitzutragen? Sicher nicht die Mehrheit. Ich sehe am Horizont Gefahren bis zum Bürgerkrieg. Die einen erfinden und diktieren all die genannten Programme und die anderen können nicht mehr mit dem Auto fahren oder heizen. Das gibt Ärger ohne Ende. Deswegen spricht viel für einen Kompromiss, der stabile Energiequellen wie Gas miteinbezieht. Wir sollten die Erneuerbaren ausbauen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt und unter der Voraussetzung, dass wir insgesamt die Volatilität beherrschen.

Welche Rolle kann Atomkraft für die Netzstabilität spielen? Wo man sie weiterlaufen lassen kann, sollte man es in der jetzigen Lage auch tun. Der Kern einer Zukunftslösung ist Atomenergie aus meiner Sicht aber nicht.

Sehen Sie eine Chance, dass bei der Energiegewinnung in den kommenden Jahren ein echter Durchbruch gelingen könnte, der die aktuellen Probleme löst? Zum Beispiel bei der Kernfusion? Das ist alles zu weit weg. Wir müssen jetzt das CO2-Problem lösen. Da muss schnell etwas passieren, das CO2 müssen wir abfangen und parallel dazu preiswerten CO2-armen grünen Wasserstoff produzieren und ebenso synthetische Kraftstoffe für die Weltflotte von 1,3 Milliarden Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren. Das alles ist ja machbar, wenn man klug international zusammenarbeitet. Es ist kein Hexenwerk.

Gibt es auch Entwicklungen, die Sie optimistisch stimmen, dass sich Klimawende, Wachstum und Stabilität vereinen lassen? Ein guter systematischer Ansatz erfordert einen internationalen Klimafinanzausgleich mit hohem Volumen. Aber dafür gibt es keine Mehrheiten in den reichen Ländern. Jeder will, dass das eigene Geld in Österreich und Deutschland beziehungsweise in Europa bleibt. Und wer seine Mittel in den Regionen investieren will, wo die Hebel am größten sind, wird sofort von Populisten verfolgt. Deswegen kommen wir auch nicht weiter. Seit 50 Jahren ist dieser Konflikt ungelöst. Und je größer die Bedrohung wird, umso mehr wandern wir in Richtung Moralismus, weil wir die Guten sein wollen, obwohl das Klimaproblem nicht gelöst wird. Den armen Ländern wollen wir natürlich trotzdem nicht das Erforderliche geben. Deswegen ist die psychologische Brücke, dass wir lieber selber ärmer werden und die anderen arm bleiben müssen. Und auf der Lebensstilebene muss man sich einreden, dass diese Entwicklung besser ist, im Sinne eines neuen Wohlstands, weil wir dann mehr Freizeit haben, weniger „Konsumstress“ aushalten müssen und bei frischer Luft mit dem Fahrrad fahren.

Zur Person

Der Ökonom und Mathematiker Prof. Franz ­Josef Radermacher ist einer der führenden Vertreter der weltweiten ökosozialen Marktwirtschaft und tritt mit seiner Global-Marshall-Plan-Initiative für eine Welt in Balance ein. Als Mitglied des Club of Rome steht er gleichzeitig dem Senat der Wirtschaft International als Präsident vor.