Warum anstatt wie viel

Covid-19
26.01.2022

Seit Beginn von Covid-19 liefert der Simulationsforscher Niki Popper Prognosen zur weiteren Entwicklung der Pandemie. Wie sie von der Politik genutzt werden, warum es nicht um einzelne Zahlen geht und wie wir wieder ein gutes Leben führen können, erklärt der Wissenschaftler im Interview.
Niki Popper

Gesellschaft und Wirtschaft waren selten von Prognosen, validen Daten und Simulationen so abhängig wie jetzt. Hat dieser Umstand den Stellenwert der Wissenschaft bei Unternehmen und Politik geändert?

Jetzt ist sicher ein gewisses Bewusstsein entstanden. Aber dieses Potenzial muss erst einmal in trockene Tücher. Denn man muss auch darauf achten, dass Wissenschaft nicht nur als Feigenblatt verwendet wird. Wissenschaftliche Herangehensweisen müssen gelebt werden, wenn sich nachhaltig etwas verändern soll. Das ist allerdings für viele Entscheidungsträger ein schmerzhafter Prozess. Sie wollen sich nicht immer nur an Fakten orientieren.

Aktuell erhält die Wissenschaft mit Sicherheit mehr Gehör denn je. Wird das auch nach der Pandemie so bleiben?

Der Stellenwert wissenschaftlicher Herangehensweisen wird zwangsweise weiter wachsen. Jene, die schlauere Methoden und Modelle einsetzen, sind im Vorteil gegenüber der Konkurrenz, die das nicht tut. Insofern mache ich mir da wenig Sorgen. Viele glauben allerdings nach wie vor, dass sie mit einem simplen Excel-File die Welt beschreiben können. Das trifft einfach nicht zu. Wir zeigen Entscheidungsträgern, dass sich die Wirklichkeit viel treffender mit dynamischen Prozessen beschreiben lässt und dass sie damit besser performen können. Entscheidend ist: Wunder können Modelle auch keine vollbringen, aber z. B. fünf bis zehn Prozent besser ist oft schon ein echter Vorteil – wenn man ihn nützt.  

Plötzlich müssen auch kleinere Betriebe sehr weit über ihren Tellerrand denken. Ist durch die Pandemie die globale Perspektive stärker in den Fokus gerückt?

Aktuell muss sich tatsächlich jeder mit der globalen Entwicklung beschäftigen und auch verstehen, was weit entfernt vor sich geht. Wenn diese akute Situation zu Ende geht, werden jene, die sich davor damit auseinandergesetzt haben, es noch intensiver tun und bei den anderen wird es wohl ein Strohfeuer bleiben.

Seit Beginn der Corona-Pandemie liefern Sie Simulationen und Modelle, die als wissenschaftliche Grundlage für politische Entscheidungen dienen sollen. Wie viel von dem, was Sie erarbeiten, findet sich in der tatsächlichen Umsetzung der Politik wieder?

Nicht jede Zahl, die wir sagen, führt zu politischen Entscheidungen. Das wäre auch nicht zielführend. Es stimmt ja auch nicht jede Zahl immer hundertprozentig. Ich sage auch klar, wenn ich etwas nicht prognostizieren kann. Es wird also natürlich nicht alles direkt umgesetzt. Wir versuchen aber Fakten und Zusammenhänge zu liefern, die in der Politik ein besseres Grundverständnis schaffen. Dabei geht es nicht immer um die Frage „Wie viel?“, sondern um das Warum. Entscheider in Unternehmen und Politik müssen verstehen, warum ein System so funktioniert, wie es das tut. Wenn man dieses Wissen schafft, ist sehr viel gewonnen.

Sind genau diese Zusammenhänge in der heimischen Politik angekommen?

Über die Wochen und Monate hat sich in der Politik ein gutes Verständnis dafür entwickelt, wie die Mechanismen funktionieren. Manchmal mehr, manchmal weniger. Auf dieser Basis können die Politiker selbst gut entscheiden. Uns geht es, auch losgelöst von Covid, nicht um einzelne Studien, wir wollen Entscheidungsträgern mit wissenschaftlich fundierten Methoden zu intelligenten Entscheidungen verhelfen und sie mit Werkzeugen ausstatten, damit sie ihre Systeme eigenständig besser verstehen.  

Wo kommen Simulationen, abseits von Covid, zum Einsatz? Und wie funktionieren sie?

Relevant sind Simulationen für alle Prozesse und Systeme, die einen gewissen Komplexitätsgrad überschreiten. Wo es ein Wechselspiel zwischen verschiedenen Variablen gibt. Wenn man zum Beispiel Abläufe in der Logistik nicht nur planen möchte, sondern auch noch wissen will, wie sie sich auf den Energieverbrauch auswirken, hilft ein Simulationsmodell weiter. Entsprechende Herausforderungen ergeben sich in allen möglichen soziotechnischen Systemen wie Mobilität, Energie, Infrastrukturplanung, Bau oder auch Raumplanung.  

Wie machen Sie die enorme Komplexität solcher Systeme berechenbar?

Wir versuchen, wo immer möglich, kausale Zusammenhänge abzubilden. Wir verbinden dafür Datenanalysen mit datengetriebenen Prozessen oder AI einerseits mit kausaler Modellierung auf der anderen Seite. Dabei geht es darum, das Wissen sowohl auf Datenseite wie auch auf Expertenseite optimal zu nutzen und zu vernetzen. Das ist der Kern unserer Arbeit.

Wie funktioniert das am Beispiel Covid?

In unserer virtuellen Bevölkerung Österreichs mit neun Millionen Individuen integrieren wir alle vorhandenen Daten, Studien und aktuellen Maßnahmen. Wir identifizieren Einflussfaktoren. Solche, die man aktiv beeinflussen kann, wie vorbeugende Maßnahmen, Test-, Impf- und Therapiestrategien, aber auch unabhängige wie Virusmutationen, Immunisierung der Bevölkerung und Umwelteinflüsse wie die Jahreszeiten. Dann schauen wir uns die Wechselwirkungen zwischen diesen Variablen an. Dadurch haben wir nicht nur ein mathematisches Modell, wir können mit dieser virtuellen Bevölkerung, die wir nachgebaut haben, Maßnahmen wie Lockdown, Schulschließung, Durchimpfungsrate, Mutation bezüglich Kosten und Nutzen analysieren. Auswertungen können wir so, je nach Datenqualität, bis auf Gemeindeebene herunterbrechen. Durch die kausale Modellierung wird das Modell jede Woche schlauer. Allerdings wird leider auch die Realität jede Woche komplexer.

Warum?

Personen können mittlerweile bis zu vier Immunisierungsereignisse haben. Sie können drei Impfungen haben, genesen sein, und es gibt vier verschiedene Impfstoffe und die Frage, ob sie erkranken und wenn ja, ob mit Symptomen oder ohne. Dadurch kommen viele Parameter zusammen, die wir abbilden müssen und zwar für neun Millionen Österreicher. Dabei müssen wir darauf achten, dass unser Modell handhabbar bleibt und Informationen liefert, die jeder verstehen kann. Dafür muss es sehr realitätsnah sein. Das hat den Vorteil, dass wir Fehler einfacher erkennen können.

Was macht ein Modell realitätsnah?

Wenn wir in unserem Modell eine Schulschließung simulieren, muss ich die Frage beantworten, wo die Kinder dann sind. Bei anderen Modellen kann man so etwas leichter vergessen.
Welche Datenquellen zapfen Sie für Ihre Simulationen an, und ist die Qualität gut genug? Wie bekommen Daten leider nie in der Qualität, die wir uns wünschen. Deswegen kämpfen wir auch immer dafür, dass die Daten besser aufbereitet werden. Bei Covid arbeiten wir im Auftrag des Ministeriums mit einer Mischung aus österreichischen Daten, die zum Beispiel aus dem epidemiologischen Meldesystem und dem elek­tronischen Impfpass stammen, wir nützen aber auch internatio­nale Daten.

Wie schlagen sich die heimischen Daten im internationalen Vergleich?

In Österreich ist die Datenqualität überschaubar gut. Wir kennen zum Beispiel nach wie vor nicht bundesweit standardisiert den Zusammenhang von Hospitalisierung und Impfstatus. Das soll sich jetzt ändern. Wenn wir mit Unternehmen arbeiten, ist das ganz anders. Sie können ihre Daten ohne lange politische Diskussionen optimal aufbereiten.

Entscheider in Unternehmen und Politik müssen verstehen, warum ein System so funktioniert, wie es das tut.

Niki Popper

Tun sie das Ihrer Beobachtung nach auch bereits ausreichend?

Es gibt zwei verschiedene Arten von Betrieben: Die einen haben zu wenige Daten. Diese Betriebe zaudern, bessere zu sammeln. Die anderen haben sehr viele Daten und wissen nicht, was sie damit machen sollen. Im staatlichen Bereich ist die Frage nach der Datennutzung vernünftigerweise immer auch von einem gesellschaftlichen Diskurs geprägt. Hier muss die Politik den Menschen darstellen, dass man dadurch das Gesundheitssystem effizient steuern und monitoren will, und zwar ohne Personendaten zu missbrauchen. Der Datenschutz muss natürlich immer gewährleistet sein. Hier gilt es also auch Missverständnisse auszuräumen.

Welche Frage beschäftigt Sie und Ihr Team aktuell am meisten?

Rund um Covid wollen wir den Menschen erklären, wie das Thema Immunisierung zu verstehen ist. Hier gab es nämlich aufgrund von Omikron eine wesentliche Veränderung. Im November hatten wir schon eine sehr breite Immunisierung auch gegen Infektion, als noch Delta dominierend war. Für Omikron haben im Vergleich erst viel weniger Menschen eine Immunkompetenz durch Impfung oder Genesung erworben, auch wenn der Schutz gegen Krankheit zum Glück viel stärker erhalten bleibt. Das zu erklären ist uns ein großes Anliegen. Bis sich diese Lücke schließt, müssen sich noch viele Menschen anstecken beziehungsweise impfen. Erst, wenn das passiert ist, reduziert sich das Infektionsgeschehen.

Und abseits von Covid?

Wir entwickeln uns in den nächsten Jahren in eine Welt, in der Logistik, Mobilität, Energie und Raumplanung sehr stark zusammenwachsen. Um sinnvoll simulieren zu können, wie die Faktoren ineinandergreifen, müssen wir die Gesamtheit der Gesellschaft abbilden. Erst dann sehen wir die Effekte von verschiedenen Maßnahmen.

Um welche Entwicklungen geht es dabei?

Wenn politisch beispielsweise Elektromobilität forciert wird, muss auch die Frage gestellt und beantwortet werden, woher die Batterie und der Strom kommen sollen. Uns muss zum Beispiel auch klar sein, dass die jetzt geborenen Menschen ein völlig anderes Verständnis zum Klimawandel haben und anders agieren werden. Solche Faktoren gilt es zu berücksichtigen.

Gibt es manchmal Überraschungen bei Ihren Simulationen?

Das ist es, was richtig Spaß macht. Wenn kontraintuitive Sachen rauskommen, die uns helfen, Dinge zu verbessern. Es ist aber natürlich auch ein zweischneidiges Schwert. Wir bauen ja Modelle, die so komplex sind, dass wir selber mitunter nicht gleich alles verstehen, was sie liefern. Dann ist die Validierung wichtig, dann muss man plausibilisieren und nachvollziehen, warum etwas herauskommt. Das machen dann natürlich nicht Kollegen, die das Modell gebaut haben. Bei kausalen Modellen findet sich auch immer eine logische Erklärung. Solche Fälle freuen uns immer. Sie bieten eine spannende Überraschung, und wir lernen etwas über die Welt.

Können Sie die Frage noch hören: Wann ist die Pandemie endlich vorbei?

Die Omikronwelle wird wohl im Februar vorbei sein. Wenn wieder eine neue Mutation kommt, geht die Pandemie weiter. Im Sommer wird es ruhiger werden, und im Herbst wird vielleicht wieder eine neue Mutation kommen.

Besteht aber nicht die Chance, dass bis dahin ausreichend Menschen in Kontakt mit dem Virus gekommen sind und sich die neue Mutante nicht mehr so stark verbreiten kann?

Das ist genau der Punkt, das ist die Wette, die die Regierung schon im Herbst gemacht hat, weil da schon sehr viele Menschen vor Delta geschützt waren. Wir sehen in der Modellrechnung, dass schon 90 Prozent geimpft sind oder mit dem Virus Kontakt hatten. Beides führt zu Immunkompetenz. Damit ist man nicht völlig safe. Aber zu 90 Prozent. Uns muss klar werden, dass man immer einfach tot umfallen kann. Man kann das Leben nicht völlig sicher machen. Aber wenn man einmal mit Covid Kontakt hatte, bilden sich nicht nur Antikörper, sondern auch andere Mechanismen und umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit zu erkranken. Es dürfte wohl so sein, dass der Schutz gegen Infektion immer wieder verloren geht und der Schutz gegen Erkrankung immer besser wird. Aber das können Mediziner besser erklären.

Mit diesem Restrisiko lebt es sich allerdings für viele Menschen nicht besonders unbeschwert.

Es bleibt eine Frage der persönlichen Risikoabschätzung. Wir haben als Gesellschaft verlernt, mit Unsicherheiten zu leben. In vielen historischen Zeiten war nicht klar, ob man am Abend überhaupt unversehrt heimkommt. Und man hat trotzdem gelebt. Nun haben wir zum Glück keinen Krieg und so schlimm ist es nicht, aber wir erleben ebenfalls sehr schwierige Zeiten, und wir müssen uns damit anfreunden, dass nicht alles sicher ist. Wenn wir uns daran gewöhnen, können wir ein gutes Leben führen.

Zur Person

Niki Popper, ist ein österreichischer Simulationsforscher, Hochschullehrer und Unternehmer. Durch seine Computermodelle zur COVID-19-Pandemie erlangte er überregionale Bekanntheit.