Geld oder Leben
Vor 16 Jahren übernahm Gerald Heerdegen die Geschäftsführung des Fahnenherstellers von seinem Vater. Seither kämpft er für Nachhaltigkeit – und gegen Billiganbieter.

Man hat ja schon viele Lebensläufe gesehen. Der von Gerald M Heerdegen fällt auf. Ferialpraktikant bei Fahnen-Gärtner mit 16 Jahren, dann HTL-Kolleg für Textilchemie, dann „Mädchen für alles“ bei Fahnen-Gärtner, dann „Erste Rucksackreise nach Malaysia/Thailand“. Fortan listet der heute 50-Jährige regelmäßig einen Karriereschritt, eine Rucksackreise. Zu Tansania hat er ein Naheverhältnis, da kommt seine Mutter her. Da verbrachte er die halbe Jugend, „als man noch die Wege verlassen und zu den Tieren hinfahren konnte“
Statusbewusstsein und Prestigedrang sind ihm hingegen völlig egal. Der Geschäftsführer des Mittersiller Fahnenherstellers will keinen Eindruck schinden. Er will vermitteln, wie er ist. Dass er gern Pink Floyd hört, Kinesiologie mag, vorgegebene Strukturen aber nicht. Dass er etwas Nachhaltiges für die Gesellschaft umsetzen will. Und für seine Enkelkinder, die es noch gar nicht gibt.
2005 übernahm Heerdegen 99 Prozent der Firma. Ein Prozent behielt sich sein Vater, Volker Heerdegen, der sie ab 1978 leitete. Er kaufte sie den Gründern Arnold und Anni Gärtner ab, die dort nach dem Krieg Schürzen, Kinder- und Arbeitsbekleidung fertigten. 1950 fanden die Gärtners ihre Bestimmung – eben Fahnen. Knatterfahnen, Bannerfahnen, Hissflaggen, Spannbänder, was das Herz begehrt. Fahnen-Gärtner fertigt jede Fahne. Heute beliefert Heerdegen jun. 30.000 Kunden, hauptsächlich in Österreich und der Schweiz, mit Potenzial in Italien, Deutschland und Slowenien.
Heerdegen wuchs in die Firma hinein, erarbeitete sich die Geschäftsleitung über Stationen in Produktion, Marketing und Verkauf. Doch die Rucksackreisen hatten Spuren hinterlassen. Auf der einen Seite Österreich, das gelobte Land mit seinem großzügigen Sozialsystem. Auf der anderen Seite die Freiheit der Reisen der frühen Jahre, abgelöst von „grenzwertigem“ Massentourismus: „Haben Sie gesehen, was aus Koh Samui geworden ist?“ Ausbeutung von Mensch und Natur und Tier. Wohlstand, auf Müllbergen gebaut, „Wann hört der Turmbau zu Babel auf?“. Das beschäftigt ihn, darüber will er reden. Wie wir auf „ein normales Maß“ zurückkommen.
LANGE LISTE
Heerdegen spricht ruhig, überlegt, nicht ohne Leidenschaft. Seine eigene Firma baute er konsequent nachhaltig auf. Jedes Jahr setzt er sich mit seinen Leuten zusammen und erarbeitet eine Liste mit Dingen, die er und seine 100 Mitarbeiter noch besser machen können, lang- und kurzfristig. Von „Plastiksackerl abschaffen“ über „Frischwasserbedarf reduzieren“, „Polyester aus 100 Prozent PET-Flaschen verwenden“ bis „Rückhol- und Recyclingservice für unsere Kunden“. Basis ist die „Gemeinwohl-Matrix“. Feld für Feld nehmen sie sich vor und denken sich Maßnahmen zu den vier Überthemen Menschenwürde, Solidarität & Gerechtigkeit, Ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz & Mitbestimmung aus. Die Liste für 2021 ist zwei A4-Seiten lang. Jeder Schritt zählt. Und wird auch honoriert: Vergangenes Jahr gewann er den Trigos, die österreichische Auszeichnung für verantwortungsvolles Wirtschaften.
Doch Heerdegen würde auch gern die Welt umkrempeln. Mit dem Bildungssystem beginnen, Volksschülern „das Leben näherbringen, worum es wirklich geht“. Nicht ums Geldscheffeln jedenfalls. Sondern um das Gesundbleiben, an Körper und Geist. Kein Fleisch essen etwa und wenn schon, dann von glücklichen Tieren, die stressfrei auf der Weide geschlachtet wurden, „wie Wildtiere – fallen um und sind tot“. Und warum soll eine Kuh 70 Liter Milch geben? „Das ist keine Milch mehr, nur gefärbtes Wasser. Abartig ist das.“ Solche Werte will er den Kindern beibringen. Nach zwei bis drei Generationen, davon ist er überzeugt, würden sie nicht mehr leben wollen wie heute.
DER HAKEN DER NACHHALTIGKEIT
Auch als Firmenchef will er „das Richtige“ vorleben. Die Firma muss gesund sein, aber „Gewinn ist die Vorbedingung, nicht das Ziel“. So wie beim Reisen „unterwegs sein das Ziel ist, nicht ankommen“. Unternehmerisch unterwegs sein, das weiß er, heißt auch, sich ständig Neues einfallen zu lassen. Zuletzt von beiden Seiten bedruckte Fahnen von höchster Farbbrillanz, doppelter Haltbarkeit und unerreichter Licht- und Wetterechtheit. Oder Kooperationen mit europäischen Herstellern, die sich gegenseitig stärken. Die Qualität ist herausragend, die Produktion ökologisch, die Arbeitsbedingungen vorbildlich – „doch dann gibt es immer einen, der billiger liefern kann“. Aus Osteuropa oder Fernost, mit solchen Preisen kann er nicht mithalten.
Das ist der Haken der Nachhaltigkeit. Man ist nie der Billigste, weil man andere Werte hochhält. Jetzt ist ihm der Ärger anzuhören: „Fängt irgendwo ein Einkaufsleiter neu an, quetscht er als erstes die Lieferanten aus. Oder sucht gleich billigere. Wie die dann produzieren und ob sie Arbeitsplätze im Land schaffen, das ist ihm egal. Er denkt nur an seinen Bonus.“ Würde er Boni zahlen, er würde sie an Nachhaltigkeitskriterien knüpfen. Aber Boni gibt es bei ihm gar nicht. Dann würde sein Vertrieb nicht mehr empfehlen, was das Richtige für den Kunden ist, sondern das, womit er am meisten verdient.
HURRA, WIR LEBEN NOCH 2020
war ein Kampf. Nach den ursprünglichen Plänen wollte er um die 7,5 Millionen Euro Umsatz machen, bei gut 200.000 Euro Gewinn. Ihm genügt das. „Wenn man in den nachhaltig-sozialen Weg investiert, macht man keine Megagewinne. Ich will ohnehin keine Finca in Spanien.“
Mit der Pandemie brach das Geschäft zusammen. Wer braucht jetzt schon Fahnen? Doch seine Leute „waren extrem cool drauf“, setzten sich in Start-up-Manier zusammen und tüftelten antimikrobielle Mund-Nasen-Schutzmasken aus, bedruckbar ab zehn Stück. „Die retteten uns. Sonst wäre das Jahr eine Katastrophe geworden.“ Die Masken und die Regierung retteten uns, setzt er nach. Ohne Kurzarbeit hätte er es nicht geschafft.
In Summe schloss er das Wirtschaftsjahr – es endete am 31. Jänner 2021 – mit 6,8 Millionen Euro Umsatz und einer schwarzen Null ab. Noch mal gut gegangen.
Doch was jetzt, wenn MNS-Masken nicht mehr der große Renner sind? Eine neue Firma steht in den Startlöchern, ein Produkt aus der Wohnraumgestaltung, mehr verrät er noch nicht. Nur so viel, dass es mit Licht zu tun hat und dass er es auf seinen Maschinen fertigen kann. Spannend ist das, eine neue Marke aus dem Boden zu stampfen. Mit neuen Vertriebsund Marketingkanälen, etwa Pinterest: „Ein Interieur-Produkt passt dort hin. Fahnen eher nicht.“ Es wird schon weitergehen. Weil ihn etwas treibt, das höher wiegt als Geld: das Leben.
Autor/in: Maria Leicht