Kindness Economy
Das neue Wirtschaftswunder
Mit „People, Planet, Profit“ in dieser Reihenfolge hat sich die Zukunftsforscherin Oona Horx Strathern für ihr Buch „Kindness Economy – Das neue Wirtschaftswunder“ beschäftigt. An erster Stelle kommen im neuen Wirtschaftswunder also die Menschen, an zweiter der Planet und erst an dritter der Profit. Dieser Gedanke ist erstmal reizvoll, denn im aktuellen System führen viele bestenfalls ein funktionierendes, aber nicht gerade glückliches Leben – erst recht in den Ausbeutungssystemen im globalen Süden. Aber kann eine Kindness Economy funktionieren? Oder ist das eine Zukunftsvision durch die rosarote Brille?
Ein Begriff- viele Bedeutungen
„Kindness“ kann nicht eins zu eins übersetzt werden. Der Begriff hat viele Bedeutungen, darunter Freundlichkeit, Herzlichkeit, Menschlichkeit, Güte und Wohlwollen. Aber warum braucht es jetzt auch noch diese Werte in einer Wirtschaft, die bereits alle Hände voll zu tun hat mit der Bekämpfung des Klimawandels? Laut Autorin Horx Strathern, weil man dann auch ökologisch besser vorbereitet ist: „Ich weiß, das klingt alles ein bisschen idealistisch: Aber wenn man glücklicher lebt, ist man eher bereit etwas für die ökologische Nachhaltigkeit zu tun.“ Sie meint, dass Menschen eher bereit wären, etwas für die Umwelt zu tun, „wenn wir die soziale Nachhaltigkeit, die gesellschaftlichen Probleme, die Einsamkeit, die Frustration, die Arbeitskultur und so weiter lösen würden“.
Profit und menschliche Güte
Der Begriff Kindness Economy ist jung und wurde von der Unternehmerin Mary Portas aufgebracht. In einem TED-Talk zum Thema sagt sie: „Den Fokus in erster Linie auf Wachstum und Profit zu legen, lässt keinen Platz für menschliche Güte.“ Um das zu ändern, setzten sie und ihr Team sich zusammen und fragten sich: „Wie wollen wir arbeiten? Wie erschaffen wir ein Business, wo wir – ja – Profit machen und kommerziell sein müssen, aber wo wir auch menschliche Güte und Anstand einbringen?“ Irgendwann habe es Klick gemacht: „Mit den Menschen beginnen!“ lautete die Antwort. Sie schrieben ihre Werte auf, darunter Transparenz, Ehrlichkeit, Empathie, Zusammenarbeit und Instinkt, und die Mitarbeiter durften laut Portas ab sofort ganz und gar sie selbst sein. Interessanterweise florierte das Business, allerdings ging es den Beteiligten viel besser.
In Zukunft brauchen wir Kindness Performance Indicators.
Oona Horx Strathern schreibt in ihrem Buch: „Wir werden vom traditionellen Denken in Wertschöpfungsketten zu einer Logik des Wertschätzungskreislaufs und von der Effizienz zur Effektivität übergehen.“ Sie nennt Beispiele von Unternehmen, die aus ihrer Sicht zur Kindness Economy gehören – allen voran der Outdoor-Mode-Produzent Patagonia, dessen Unternehmenszweck seit 2018 lautet: „Wir sind im Geschäft, um unseren Heimatplaneten zu retten.“ Patagonia begann Materialien zu verwenden, die die Umwelt weniger belasten, jährlich ein Prozent des Umsatzes zu spenden und wurde eine Benefit Corporation (B-Corporation). Das ist eine US-amerikanische Unternehmensform, bei der es neben dem Gewinn auch um einen positiven Einfluss auf die Gesellschaft, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Allgemeinheit und Umwelt geht – Gemeinwohl und privatwirtschaftlicher Nutzen gehen Hand in Hand. Gründer Yvon Chouinard gab die Parole aus: „Die Erde ist jetzt unser einziger Aktionär.“
Sinn über Profit
Auf seiner Website schreibt das 1973 gegründete Unternehmen: „Zu unserem 50. Geburtstag blicken wir nach vorne, nicht zurück, auf das Leben auf der Erde. Lasst uns gemeinsam Sinnhaftigkeit über Profit stellen, um so diesen wunderbaren Planeten zu retten – unsere einzige Heimat.“ Aber nicht nur der Planet hat bei Patagonia einen hohen Stellenwert, auch die Menschen. So schrieb Chouinard ein Buch mit dem Titel „Let My People Go Surfing“, in dem es um eine Führung geht, die erlaubt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei günstigem Wellengang surfen gehen und die Arbeit ruhen lassen dürfen – dazu muss man wissen, dass Patagonia in Kalifornien ansässig ist.
Es hat ein Wertewandel bei den Konsumentinnen und Konsumenten stattgefunden.
Marcus Scheiblecker, Senior Economist am Wifo, findet den Begriff Kindness Economy schwammig. Außerdem ist es aus seiner Sicht kein Selbstzweck, dass Unternehmen den Menschen und dem Planeten jetzt einen höheren Stellenwert zuschreiben. Nicht die Unternehmen würden proaktiv netter werden, sondern der Markt verlange von ihnen, sich wohl zu verhalten: „Ich glaube nicht, dass der Wertewandel bei den Unternehmen stattfindet: Deren Aufgabe ist es, den Profit zu maximieren. Aber es hat ein Wertewandel bei den Konsumentinnen und Konsumenten stattgefunden.“ Unternehmen, die sich nicht an soziale und ökologische Grundbedingungen halten, hätten schlicht und einfach zunehmend Schwierigkeiten, weiterhin Profit zu machen.
Transparenz einfordern
Doch sich allein auf die Kindness-Präferenz der Konsumentinnen und Konsumenten zu verlassen, sei auch nicht genug: „Sie sehen reißerische Filme in den Medien, die teilweise überspitzt dargestellt sind, und auf der anderen Seite kommt vieles gar nicht ans Tageslicht.“ Die Wahrheit über Umwelt- und Arbeitsbedingungen sei in einer globalisierten Welt schwer herauszufinden. Zudem treten gerade in Zeiten, in denen viel Angst herrscht – etwa vor der Inflation oder Kriegen – Themen wie nachhaltige Produktion in den Hintergrund. Scheiblecker: „Der Staat ist aufgefordert, Transparenz und mehr Content von den Unternehmen einzufordern.“ Die Lieferkettenverordnungen der EU hält er in diesem Kontext für sinnvoll.
Auch Oona Horx Strathern hält Transparenz in einer Kindness Economy für wichtig – dazu gehören etwa auch neue Zertifikate, die erkennen lassen, wie „kind“ Unternehmen agieren: „Natürlich denken die Firmen: Oh Gott, nicht noch eine Prüfung! Aber das sind die Säulen, auf denen sich eine Kindness Economy aufbauen lässt.“ So könnte es in Zukunft auch möglich sein, nur in freundliche Firmen zu investieren. Horx Strathern: „Es gibt die klassischen Key Performance Indicators und ich weiß, es klingt ein bisschen bizarr, aber in Zukunft brauchen wir Kindness Performance Indicators.“
Chief Kindness Officer
Firmen könnten auch einen Chief Kindness oder Chief Happiness Officer installieren, der für die menschlichen Bedürfnisse zuständig ist – anstatt Menschen als Human Resources anzusehen. Horx Strathern glaubt, man müsse Unternehmen künftig andere Fragen als die nach dem Profit stellen, neben „Haben sie einen CKO?“ könne das etwa sein: „Haben Sie eine Vier-Tage-Woche?“ „Okay, Sie machen Profit, aber was geben sie zurück an den Planeten und an die Menschen?“ „Wie behandeln und unterstützen Sie Ihre Mitarbeiter?“
Sofern wir die Kindness Economy nicht in die La-La-Land-Ecke stellen, fragt es sich, was es bräuchte, um die Wirtschaft in Richtung Kindness Economy zu entwickeln, also hin zu einer Ökonomie ohne Ausbeutung von Mensch und Natur. Daniela Knieling, Geschäftsführerin der CSR-Unternehmensplattform respact, verweist hier auf die Initiative Inner Development Goals (IDGs), was innere Entwicklungsziele bedeutet. Die globale Initiative geht von den Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen aus und bemüht sich laut Knieling, „Menschen und Organisationen bei der Entwicklung der inneren Fähigkeiten, Fertigkeiten und Qualitäten zu unterstützen, die wir für ein fruchtbares Miteinander benötigen, um eben die SDGs, die 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung, tatsächlich real umzusetzen.“ Zu den insgesamt 23 inneren Entwicklungszielen gehören etwa der innere Kompass, Integrität und Authentizität, Offenheit und Lernbereitschaft, Komplexitätsbewusstsein, Verbundenheit, Empathie und Mitgefühl, Vertrauen, Co-Creation, Kreativität und Optimismus.
Vernünftige Balance
Aber kann es Unternehmen wirklich gelingen, den Profit hinter die Menschen und den Planeten zu stellen? Können sie wirklich „kind“ sein, insbesondere in Branchen mit starkem Wettbewerb um die Kundschaft? „Warum nicht beides?“ fragt Daniela Knieling.
Unternehmerische Ziele und Kindness Economy sind kein Widerspruch.
„Die unternehmerischen Ziele und die Kindness Economy sind kein Widerspruch. In den einzelnen Situationen auf verschiedene Ziele zu blicken und dann einen Weg der vernünftigen Balance zu gehen, ist durchaus möglich.“ Ihre Organisation respact sei dazu da, um Unternehmen auf diesem Weg zu unterstützen und macht sie beispielsweise beim CSR-Tag sichtbar. Auch durch die jährliche Verleihung des Nachhaltigkeitspreises trigos-Award schafft sie mehr Bewusstsein und Motivation für Unternehmensverantwortung und nachhaltige Innovation: „Unternehmen, die hier punkten, können das in die Auslage stellen und damit ein klares Zeichen setzen.“
Knieling sieht einen Kindness-Economy-Ansatz sogar als Wettbewerbsvorteil, weil Kundinnen und Kunden ihre Entscheidungen bewusster treffen als früher: „Jene Marken, die zeigen können, dass sie sich mit den Themen Nachhaltigkeit oder Arbeitsbedingungen beschäftigen, haben einen klaren Vorteil. Wenn ein Unternehmen heutzutage nicht über dieses Thema spricht, macht das viele Menschen skeptisch, weil es immer stärker State of the Art wird, die eigenen Werte vor den Vorhang zu holen.“
Veränderungen im Geschäftsmodell
Sabine Hoffmann findet den Ansatz einer Kindness Economy interessant. Sie bezeichnet sich als Kritikerin des aktuellen Wirtschaftssystems und hat nach 19 Jahren Agenturtätigkeit das Unternehmen The Tomorrow Tribe gegründet: „Die nächsten 17 Jahre meines Lebens widme ich dem neuen Zusammenleben und Wirtschaften auf diesem Planeten – für eine Zukunft, die wir lieben werden.” In 17 Jahren nämlich will Österreich klimaneutral sein. Hoffmann: „Das bedeutet für Österreichs Unternehmen große Veränderungen im eigenen Geschäftsmodell.“ Sie will „Menschen in Vorbild-, Führungs- und Mach(t)positionen“ begleiten, die die volle Verantwortung übernehmen für das, was sie tun und neue Formate und ein neues Business Modell suchen, „das Wachstum und Erfolg neu interpretiert“.
Dabei spielt der soziale Faktor eine große Rolle. Hoffmann: „Unser Wirtschaftssystem respektiert den Menschen null.“ Es gehe nicht darum, welche Bedürfnisse ein Mensch habe oder was er gut könne, sondern um „nine to five, da hast du da zu sein und zu performen“. Sie glaubt, „wenn wir die Menschen im Wirtschaftsleben so respektieren, wie sie sind, müssen sie sich nicht mehr jeden Tag dem System unterordnen und haben wieder eine Chance, sich zu spüren“. Und nur wenn sie sich wieder spüren, könnten sie auch wieder empfinden, was sie mit der Natur machen und welche Verantwortung sie für das große Ganze haben.
Egoismus erlaubt
Hoffmann sieht das Thema unternehmerisch: Wer jetzt Innovationen für eine freundliche Wirtschaft entwickle, habe einen Startvorteil. Hoffmann glaubt, es werde entscheidend sein, wer in seiner Branche First Mover ist, denn „wer als Erste die gesamte Branche an einen Tisch holt, um gemeinsam mit Freunden und Feinden neue Zukunftsbilder zu entwickeln, wird einen Bonus in der Öffentlichkeit und damit bei seinen Kund*innen haben“. Geheimniskrämerei war gestern. Wenn ganze Branchen wie etwa die Luftfahrt oder die Reisebranche eine komplette Wandlung vollziehen müssen, brauche es Zukunftsdialoge und Co-Creation, und zwar auf internationaler Ebene. Und was müssen Unternehmen, die sich in Richtung Kindness Economy bewegen wollen, noch tun? „Sie müssen im Sinne von Corporate Activism ihre Stimme gegenüber der Politik erheben und Richtungsentscheidungen verlangen, aber nicht durch Stänkern und Jammern, sondern mit konkreten Vorschlägen.“
Auch Matthias Neitsch, Geschäftsführer von Re-Use Austria, engagiert sich für ein neues Wirtschaftssystem – konkret für die Re-Use-Ökonomie. Die Kindness Economy hält er eher für eine Modeströmung, die ihm zu wenig radikal ist. Dass der Profit an letzter Stelle steht, sei „schon mal gut“, aber Profit sei ein Fehler im System, weil er bedeute, „dass du mehr kriegst als du gibst“. Das Wirtschaftssystem lebe derzeit stark davon, dass das Ergebnis der Produktivität möglichst schnell zerstört werden könne: „Wir brauchen eine Werterhaltungsökonomie, die darauf abzielt, dass man Gewinn damit macht, den Wert zu erhalten und nicht, ihn zu zerstören.“ Daran arbeitet Neitsch auch als Mitglied im Beirat Kreislaufwirtschaft in der neuen Taskforce Circular Economy des Klimaschutzministeriums und des Wirtschaftsministeriums.
Give-Away-Kultur
Punktuell habe Profit eine gute Funktion, weil er Ehrgeiz anstachle und Fortschritt fördere, was etwa in Aufbauzeiten wichtig sei. Aber dass Menschen für Profite mit Ansehen belohnt werden, findet Neitsch nicht gut. Viel besser funktionieren aus seiner Sicht Give-Away-Kulturen wie die indigener Völker in Nordamerika: „Das größte gesellschaftliche Ansehen hat dort, wer am meisten gibt.“ Um viel geben zu können, müssen Menschen aber natürlich auch wirtschaftlich erfolgreich sein. In diesem System verarme niemand, denn materieller Wohlstand werde auf alle gleich verteilt.
Neitsch glaubt, es bräuchte einen stärkeren Systemwandel: „Die Kindness allein löst noch nicht unser System-Problem, aber vielleicht macht sie eine Lösung ein bisschen leichter.“ Im Zentrum müssten Achtsamkeit und Wertschätzung von Dingen, Menschen, vom Planeten und vom Leben stehen: „Das kann man bis zu einem gewissen Grad monetarisieren, aber nicht zur Gänze.“ Grundsätzlich glaubt Neitsch, dass die Kindness Economy eine von vielen gesamtgesellschaftlichen weltweiten Suchbewegungen ist, die irgendwann an ihre systemischen Grenzen stoßen. Das sei trotzdem gut: „Lösung habe ich auch keine, die hat glaub ich niemand. Aber man muss diese Suchbewegungen unterstützen und auch die Vielfalt fördern.“ Je mehr Ansätze man fördere, umso höher sei die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Gutes – oder auch mehrere richtige Lösungen – dabei sind.