Machtverhältnisse
Ist Macht eigentlich gut – oder böse?
Schon mal vom Kekstest gehört? Die Sozialpsychologin Deborah Gruenfeld von der Stanford University ließ Student*innen in Dreier-Gruppen über umstrittene Themen diskutieren. Per Los wurde jeweils eine*r der drei dazu bestimmt, die Meinung der beiden anderen zu bewerten. Er*Sie hatte also ein kleines bisschen Macht bekommen.
Als wenig später eine Schüssel mit Keksen gebracht wurde, griffen die „ermächtigten“ Student*innen als erste zu, kauten mit offenem Mund und fanden nichts dabei, den Tisch zu bekrümeln. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bekundeten sie so ihren Machtvorsprung.
Macht kann Großes bewirken, aber auch viel zerstören
Macht an sich ist weder gut noch böse. Es kommt vielmehr darauf an, wie man sie nutzt. Es gibt nämlich eine helle und eine dunkle Seite der Macht. Mithilfe wohlwollender Macht lässt sich Großes bewirken, fehlgeleitete Macht hingegen kann sehr viel zerstören. Macht macht die Guten besser und die Schlechten schlechter. Denn Macht verändert die Persönlichkeit.
Höllisch aufpassen muss jede*r, die*der Macht erlangt. Denn die Gefahr, mit Macht schlecht umzugehen, kommt schleichend - besonders bei den von Natur aus stark Dominanten. Ständig sollten Führungskräfte darauf achten, nicht in ein zerstörerisches Machtgebaren zu schliddern. Macht drückt sich nämlich nicht selten dadurch aus, dass die*der „disziplinarische Vorgesetzte“ mit ihren oder seinen „Untergebenen“ schlecht umgeht.
Wie es zu solchem Verhalten kommt? Macht erzeugt ein gefährliches Hormongemenge, das die Betroffenen dazu bringt, rücksichtsloser zu werden, sich nicht länger darum zu kümmern, was die anderen denken, ihre Machtposition zu missbrauchen und mit zweierlei Maß zu messen. Was sich die Mitarbeitenden nie erlauben dürften, etwa zu spät zum Meeting zu kommen, ist für Chef*innen eine kleine Machtdemonstration.
Was die Hirnforschung uns zum Thema sagen kann
Hirnforscher*innen berichten von einer sich verändernden Biochemie, sobald Macht ins Spiel kommt - mit zwangsläufigem Einfluss auf das Individuum. Dabei kann vor allem der Testosteronspiegel steigen. „High-T“ nennt man solche Personen. Im schlimmsten Fall wird man zu einem aus der „dunklen Triade“: Psychopath*innen, Narzisst*innen und Machiavellist*innen. Die möglichen Folgen: Skrupellosigkeit, Selbstbedienungsmentalität, übersteigertes Geltungsbedürfnis. Die Medien berichten regelmäßig darüber.
Ist Testosteron am Werk, wird beinahe rücksichtslos alles getan, um Maximalrenditen einzufahren, den Investor*innen zu imponieren, den Wettbewerb zu übertrumpfen und/oder fette Boni einzuheimsen, ganz unabhängig davon, ob dies unternehmerisch sinnvoll ist und dem Wohl aller dient – oder auch nicht. In totalitären Regimen kann sehr gut beobachtet werden, was Macht alles anzurichten vermag. Ein immanenter Nebeneffekt: Frauen, die sowas verhindern könnten und würden, werden stark unterdrückt.
Archaisch gesehen ist für ein maßloses Alphatier eine weibliche Person entweder Beute - oder Beta. Da, wo Frauen das Spielzeug der Mächtigen sind (und Exzesse sind trotz „Me-too“ nicht vorbei), kommen diese als Ebenbürtige einfach nicht vor. Und Alphas lassen sich von Betas nicht gern belehren. All das ist, weil kortikal so gepolt und durch Biochemie gepusht, meist nicht mal Absicht. Deshalb ist Obacht so wichtig.
Was die Machtdroge Testosteron anrichten kann
Die Machtdroge Testosteron dämpft Empathie, was früher im Einzelfall sinnvoll war, denn im Kampf musste man notfalls töten können. Ganz klar kann Testosteron, das „Porsche-Hormon“, ein wunderbarer Antreiber sein. Es sorgt für einen überaus starken Erfolgswillen, für hohe Wachstumsziele und Siegesgewissheit. So bringt es uns mächtig voran. Doch in den falschen Hirnen ist es ein Teufelszeug. Es befeuert Eskalation, lässt einen über zulässige Grenzen springen und fabriziert den gefürchteten Tunnelblick.
Höllisch aufpassen muss also jede*r, die*der Macht erlangt, denn Macht verändert die Persönlichkeit. Der zunehmend sorglose Umgang mit Machtbefugnissen kann die schlimmsten Blüten treiben. Soziale Kompetenzen verkümmern. Gefühlskälte setzt ein. Verblendet und von sich berauscht kann die selbstkritische Einsicht komplett versiegen. Omnipotenzfantasien und die Illusion der Unbesiegbarkeit stellen sich ein.
Oft ist niemand mehr da, der dem Einhalt gebietet. Denn Autoritätshörigkeit verbietet Widerworte. Übrigens besteht eine enge Beziehung zwischen einem beruflichen Aufstieg und dem Verschweigen von Fehlern und Schwierigkeiten. Wer Schönwetter meldet und sich als Siegertyp präsentiert, ist „weiter oben“ sehr beliebt. So lebt das Topmanagement in einer gefährlichen Filterblase – „Executive Isolation“ genannt.
Macht macht eine Firma in hohem Maß unproduktiv
Wo Macht ist, ist immer auch Angst. Die Angst derer, die nach oben drängen, ist es, den Anschluss zu verpassen. Und die Angst derer, die oben angekommen sind, ist es, die mit Macht verbundenen Privilegien wieder zu verlieren. So kommt es, dass Machtbesessene ihren Zuständigkeitsbereich hermetisch abriegeln, im Silodenken verharren und ihr Wissen wie einen Schatz hüten, anstatt ihn zu teilen.
Verstehen sich Führungselite und Belegschaft als „wir hier oben“ gegen „die da unten“, dann ist der Bruch vorprogrammiert. Zwischenmenschliche Kälte ist in einem solchen Kontext noch das kleinere Übel. Vor allem werden in großem Stil menschliche Ressourcen verschwendet, denn es baut sich ein Szenario aus Drohungen, Intrigen, Missgunst und Kontrollwahn auf. Der Fokus ist nach innen gerichtet, viel Energie geht für Angriff und Verteidigung drauf, jede*r ist mit Absicherungsmaßnahmen beschäftigt.
Das Machtgehabe in den Führungsetagen ist höchst unproduktiv und verplempert wertvolle Zeit, die heute niemand mehr hat. Zudem lässt das „Machtwort“ der Chefin wertvolle Initiativen einfach versanden. Die Talente mit hohem Potenzial lernen auf diese Weise, dass ihre Meinung nicht zählt. Und sie wandern in Scharen ab. Mit dem verbleibenden Mittelmaß sind die Herausforderungen der Zukunft nicht zu schaffen.
Hinderliches Machtgedöns braucht echt niemand
Tradierte Unternehmen sind autoritäre Systeme. Karriere wird dort durch Anpassung gemacht. Gleichschritt ist das Gebot. Anreizsysteme sorgen für die richtige Richtung. Wer seine Arbeit „at target, on budget, in time“ erledigt, eine Punktlandung auf vorgegebene Planziele schafft und Verfahrenstreue beweist, wird mit Boni und anderen Goodies belohnt. Wer sich hingegen querstellt und die in den Unternehmen geltenden Regeln nicht penibel befolgt, wird sanktioniert.
Widerspruch ist offiziell zwar oft erwünscht, wird jedoch in der Praxis eher selten goutiert. Offen opponieren? Bisweilen beruflicher Selbstmord. Wer die eingefahrenen Abläufe stört, Vorgaben missachtet und sich dem firmeninternen Verhaltensprotokoll widersetzt, hat mit Vergeltungsmaßnahmen zu rechnen und wird bestraft: mit öffentlichen Rügen, mit Diffamierung und Missachtung, mit dem Verweigern von Vergünstigungen oder der Versetzung aufs Abstellgleis.
Diese und ähnliche Züchtigungsmaßnahmen sollen dabei helfen, Andersdenkenden die Flausen aus dem Kopf zu treiben. „Wer sich der vorgegebenen Ordnung nicht fügt, den können wir hier nicht gebrauchen“, erklärt man mir neulich. Einem CX-Manager wurde vor versammelter Mannschaft mit Abmahnung gedroht, weil er einen veralteten Prozess monierte und einen Vorschlag für eine Automatisierung gemacht hatte. Seitdem ist er still und macht Dienst nach Vorschrift. Sein Schweigen ist reiner Selbstschutz.
Infragestellen ist geradezu überlebensnotwendig
Vorwärtsdenkende sanktionieren? Das kann sich kein Unternehmen noch länger leisten. Vielmehr sind sie geradezu lebensnotwendig, um den Sprung in die Zukunft zu meistern. Sie sprechen aus, was sich sonst niemand traut. Sie hinterfragen, wo andere unreflektiert einfach nur folgen. Sie decken Missstände auf, vor denen andere die Augen verschließen. Sie scheuen nicht mal Konflikte, wenn es für das Weiterkommen einer gemeinsamen Sache notwendig ist. Sie hassen Lippenbekenntnisse und Schönfärberei.
Weil sie aber stichhaltige Fragen stellen, Vertrautes in Zweifel ziehen, Untätigkeit schonungslos attackieren, ideenreich um die Ecke denken und scheinbar unumstößliche interne Glaubenssätze ins Wanken bringen, sind sie von Mächtigen wenig gelitten. Sie werden als „Unruhestifter*innen“ und „Sonderlinge“ apostrophiert. Anstatt von ihnen zu profitieren, werden sie niedergemacht oder gar Nestbeschmutzer*innen genannt. So handeln besitzstandswahrende Obrigkeiten, wenn sie ihre Felle davonschwimmen sehen.
Eine goldene Regel: „Widersprechen Sie Ihrem*Ihrer Chef*in“
Wer Machtansprüche rein durch Hierarchie sichern will, erzeugt Stille im Unternehmen, bewirkt Ohnmacht, blinden Gehorsam und Resignation. Wo Bedenken, Einsprüche und Kritik nicht geäußert werden dürfen, werden Fehler nicht aufgedeckt und Sicherheitslücken nicht erkannt. Unreflektiertes Ja-Sagertum deckt sogar unlautere Machenschaften und entgleiste Moral. In einem solchen Umfeld gibt es höchstens Innovatiönchen, doch der Weg zu bahnbrechenden Innovationen ist versperrt.
Das „Machtwort von oben“ sucht nicht nach Erkenntnisgewinn, sondern will die eigene Meinung durchdrücken. Aus all diesen Gründen gilt es, das große Schweigen zu brechen, das sich in viele Unternehmen breitgemacht hat. Kein*e Mitarbeitende*r muss ihre*seine Ideen einbringen. Sie*Er tut dies erst dann, wenn sie*er gehört und wertgeschätzt wird, wenn Kritik gefahrlos möglich und Andersdenken ausdrücklich erwünscht ist.
Schon eine einzige Regel kann dies bewirken: „Widersprechen Sie Ihrem*Ihrer Chef*in!“
Die Pflicht zum Widerspruch löst endlich Blockaden. Abweichungen sind wertvoll, weil sie Varianten aufzeigen und bessere Wege zum Ziel demonstrieren. Allein hierdurch lassen sich Neuerungen erzielen, die das Arbeitsleben erleichtern und den Kund*innen viel Freude bereiten. Vor allem bringt diese Regel die „Weisheit der Vielen“ in Fahrt. Andere, bessere und vor allem auch konträre Sichtweisen führen zu einer Horizonterweiterung und schließlich zu neuen Handlungsoptionen. Und genau das macht Wettbewerbsvorsprünge dann sehr wahrscheinlich.