Gastbeitrag
Ein digitaler Hidden Champion werden
„Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die Digitalisierung verschlafen“. Diese Aussage hört man oft. Die DACH-Region hinke wie die meisten Länder in Europa im Digitalbereich technologisch hinterher, und ihre digitale Wirtschaft liege weit hinter der von Ländern wie den USA, China und Südkorea zurück. „Das stimmt – jedoch nur bedingt“, betont Prof. Dr. Georg Kraus, Geschäftsführer der Unternehmensberatung Kraus & Partner, Bruchsal. In der ersten Phase der Digitalisierung, in der die neue digitale Infrastruktur geschaffen werde, lägen zwar außer-europäische Konzerne wie Microsoft, Google, Amazon und Alibaba, aber auch OpenAI und Nvidia „oft meilenweit vorn“. Doch in der nächsten Phase der Digitalisierung könne die Wirtschaft im deutschsprachigen Raum ihre Stärken durchaus ausspielen – und zwar überall dort, wo sie traditionell am erfolgreichsten ist: in Nischenmärkten. In ihnen können viele mittelständische Unternehmen, so seine These, in den kommenden Jahren hochprofitable Geschäfte aufbauen.
Viele Nischenmärkte warten auf ihre Erschließung
Doch welche Märkte sind das? Unter anderem die Branchen und Geschäftsfelder, in denen auch nach mehr als 30 Jahren Digitalisierung noch weitgehend nach analogen Prinzipien gearbeitet wird. Ein Paradebeispiel hierfür ist die öffentliche Verwaltung. Doch auch in der privaten Wirtschaft lässt sich eine schier endlose Zahl potenzieller lukrativer Nischenmärkte identifizieren. Davon ist Dr. Jens-Uwe Meyer, der Vorstandsvorsitzende der Innolytics Leipzig, überzeugt. So zum Beispiel, wenn man als Anbieter im Digitalbereich, zu dem auch die KI zähle, sein Augenmerk auf solche Themenfelder wie die Anlagen- und Prozessteuerung oder allgemein Automatisierung richte. Oder wenn man sich auf ausgewählte Zielgruppen wie Unternehmen mit einer Filialstruktur oder einem hohen Personalkostenanteil fokussiere. Oder wenn man sich im Bereich Logistik auf Unternehmen spezialisiere, die beim Warentransport besondere Auflagen und Vorschriften beachten müssen. Die Zahl der möglichen Digitalisierungs- und KI-Einsatz-Nischen sei nahezu unendlich, betont Meyer. Und diese eröffne in den nächsten Jahren „hochspezialisierten Unternehmen die Chance, digitale Hidden Champion zu werden“.
Diese Chance möchte auch die Innolytics nutzen, indem sie, so CEO Meyer, mittelständischen Unternehmen „mit digitalen Lösungen hilft, so komplexe Anforderungen wie die ISO-Norm zu erfüllen“. So hat ein Tochterunternehmen von Innolytics das DICIS Institut (Digital Institute for Certification of International Standards), gerade ein „KI-Tool“ auf den Markt gebracht, in das „Mittelständler nur den Namen ihres Unternehmens und eine Beschreibung seiner Tätigkeiten einfügen müssen“. Danach erstellt die Software alle für die ISO-Zertifizierung erforderlichen Dokumente – sozusagen auf Knopfdruck. Diese Vorlagen können dann dem individuellen Bedarf angepasst werden. Das Anlegen der kompletten für die ISO-Zertifizierung erforderlichen Dokumentation dauert so „nur noch wenige Stunden“. Meyer prophezeit: Sollte sich dieses Tool oder ein vergleichbares im Mittelstand durchsetzen, wird dies „den Markt der Zertifizierung von Managementsystemen nachhaltig verändern“.
Ziel: Ein digitaler Hidden Champion werden
Innolytics strebt nicht danach, ein Weltmarktführer wie Microsoft zu werden. Die AG will auch nicht wie Uber die Welt der Mobilität verändern. Das Unternehmen möchte vielmehr wie viele potenzielle digitale Hidden Champions „hochprofitable digitale Nischen besetzen und in ihnen mittelfristig Millionenumsätze machen – bei im Vergleich zu traditionellen Unternehmen geringen Kosten“. Innolytics will auch nicht den klassischen Zertifizierern – wie in Deutschland zum Beispiel dem TÜV und der DEKRA – Kunden abjagen. „Unsere Vision ist es, die ISO-Zertifizierung von Managementsystemen auch für die Millionen Klein- und Mittelunternehmen erschwinglich und leicht handelbar zu machen“, erklärt Meyer. Dieser digitale Markt ist im Vergleich zum Markt von Amazon zwar klein, doch dafür ist er wie fast alle Nischenmärkte bei weitem nicht so umkämpft wie zum Beispiel der E-Commerce. In den Online-Handel strebten in den vergangenen Jahren viele Start-ups und Konzerne mit der Vision, entweder ein Einhorn zu werden oder dort wie Amazon ein Quasi-Monopol zu schaffen. Viele andere Branchen und Geschäftsbereiche wie die Zertifizierung von Managementsystemen blieben jedoch „bisher noch weitgehend vom digitalen Wettbewerb verschont“, betont Georg Kraus, der unter anderem Lehrbeauftragter an der St. Gallener Business-School und der technischen Universität Clausthal ist. In ihnen findet erst allmählich ein Erwachen statt.
Das „Innovator‘s Dilemma“ überwinden
Der Wirtschaftsingenieur nennt dafür folgenden Grund: „Die Unternehmen, die in solchen Märkten aktiv waren, hatten wenig Interesse daran, ihre bestehenden erfolgreichen Geschäftsmodelle zu kannibalisieren.“ Sie lebten, wie zum Beispiel fast alle Unternehmensberatungen, zu denen auch die großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und Anwaltskanzleien zählen, sehr gut von ihren Beraterhonoraren und teuren analogen Lösungen. Folglich bestand für sie kein Anlass, unter Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnik, sich smartere und für ihre Kunden eventuell preisgünstigere Problemlösungen zu überlegen. Die in solchen Märkten tätigen Unternehmen wurden durch das ausgebremst, was der US-amerikanische Wissenschaftler Clayton M. Christensen das „Innovator‘s Dilemma“ nennt: Sie wussten zwar, dass eine grundlegende digitale Transformation in ihrem Markt mittel- bis langfristig unumgänglich ist, doch sie wollen ihre gewohnten, lukrativen Geschäftsmodelle nicht selbst zerstören. Also verteidigen sie diese solange wie möglich.
Doch dann kam die Corona-Pandemie mit all ihren Folgen wie Lockdown und Lieferengpässen. Kurze Zeit später brach der Ukraine-Krieg aus mit seinen bekannten Folgen wie explodierenden Energiepreisen. Diese „Schwarze Schwäne“, also unvorhergesehenen Ereignisse, waren für viele Unternehmen ein Wachmacher, ihre Strategien und Geschäftsmodelle zu überdenken. Für andere Unternehmen war der Wachmacher, der sich verschärfende Fachkräftemangel oder der durch ChatGPT ausgelöste KI-Hype. Zugleich erkannten viele unternehmerisch denkende Menschen wie die Gründer der Innolytics AG: Hier tun sich durch die Marktveränderungen neue Chancen für uns auf. Also potenzierten sie ihre Anstrengungen, um künftig ein möglichst großes Stück vom Kuchen „Markt für …“ abzubekommen.
Lohn: hohe Wachstumsraten über viele Jahre
Digitale Nischenmärkte erscheinen auf den ersten Blick oft klein – zumindest im Vergleich mit solchen Billionen-Dollar-Märkten wie dem Markt für Standard-Software. Ein großes Plus von ihnen ist jedoch: Weil sie noch nicht erschlossen sind, sind in ihnen hohe Wachstumsraten über viele Jahre möglich. Jens-Uwe Meyer, von dem gerade das Buch „Die KI-Roadmap: Künstliche Intelligenz im Unternehmen erfolgreich einsetzen“ erschien, schätzt: Bislang sind maximal zehn Prozent aller digitalen Nischen besetzt. Vermutlich sind es weniger, da solche bereits erwähnten Ereignisse wie die Corona-Pandemie, der Fachkräftemangel, die Ukraine-Krieg, der KI-Hype uns gerade erst die Augen dafür öffnen, in wie vielen unserer Lebens- und Arbeitsbereiche eine Digitalisierung eventuell sinnvoll, wenn nicht gar nötig wäre. Für Unternehmen, die mit Speziallösungen digitale Nischenmärkte besetzen möchten, gelten jedoch andere Spielregeln als für Unternehmen, die wie die Konzerne Amazon und Google, Facebook und Airbnb zur sogenannten Plattform-Ökonomie zählen. „Sie müssen bezogen auf ihren Zielmarkt und das Geschäftsfeld ihrer Zielkunden eine sehr hohe fachliche Expertise haben“, betont der Wirtschaftsingenieur Kraus, Sie müssen zudem „komplexe technologische Lösungen entwickeln können und ein tiefes Verständnis für die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Zielkunden haben“.
Herausforderung: Die „neue Problemlösung“ promoten
Auch ihre Marketing- und Vertriebsstrategie muss eine andere sein: „Sie brauchen eine Strategie, wie sie ohne ein breites Netz von Niederlassungen oder Repräsentanten zum Beispiel die mittelständische Industrie weltweit erreichen.“ Zentrale Säulen ihrer Markterschließung und -bearbeitung können das Content-Marketing, der gezielte Einsatz von Influencern und ein professionelles SEO sein, betont der Management- und B2B-Vertriebsberater Peter Schreiber, Ilsfeld. Ein weiteres Element ist oft die gezielte Suche nach passenden Business- und Netzwerk-Partnern. „Denn was nutzt es einem Unternehmen, wenn es die sich aus den Marktveränderungen, dem technischen Fortschritt usw. ergebenden Chancen erkennt und entsprechende smarte Problemlösungen entwickelt, diese deren potenzielle User und Käufer aber nicht kennen?“, fragt Schreiber. „Nichts!“ Denn dann ist es, wenn seine Ressourcen aufbraucht sind, irgendwann pleite – selbst wenn seine Problemlösung das Potenzial gehabt hätte, damit Millionen- oder gar Milliardenumsätze zu erzielen. Ein Schicksal, das dem B2B-Vertriebsberater zufolge schon viele erfolgversprechende Starts-up und Tochterunternehmen von Mittelständlern erlitten – „sofern sie nicht zuvor von den Marktgiganten aufgekauft wurden“.