Vom Ende der Naivität

Europa
11.05.2022

Corona, Klima, Krieg: Auf nichts davon war Europa gut vorbereitet. Jetzt droht die EU unter diesem Druck in die geopolitische Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Doch wenn Europas Staaten jetzt zusammenrücken und an einem Strang ziehen, besteht die Hoffnung, dass die Krisen eine positive Wende einläuten.
EU sucht nach Wende

Es lässt sich schlecht behaupten, dass Europa noch keine katastrophalen Krisen erlebt hat. Aber die Erschütterungen, die der Kontinent derzeit erlebt, sind die schwersten seit vielen Jahrzehnten. Zuerst begann Anfang 2020 die Corona-Pandemie, seit diesem Februar findet auf europäischem Boden der Krieg in der Ukraine statt, und die Klimakrise spitzt sich auch immer mehr zu und fordert gewaltige Anstrengungen. Seit 2020 hat sich die EU zudem noch um Großbritannien verkleinert – jetzt leben nur noch rund 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in ihren Mitgliedstaaten. Die Herausforderungen sind so groß, dass vielfach von einer Zeitenwende und besonders angesichts des Angriffskriegs von Russland auf die Ukraine von einer tektonischen Wende oder Verschiebung in der europäischen Geschichte gesprochen wird.
Das wirft Fragen auf: Wie kann und wird Europa mit den Herausforderungen umgehen? Wo steht es? Wo will es hin? Wie vereint ist es? Wird es innere Streitigkeiten hintanstellen, um sich mit voller Kraft an die Lösung der echten Probleme zu machen? Werden die EU-Staaten an einem Strang ziehen – und wenn ja, werden sie stark genug ziehen? Hat Europa eine Chance, sich unter den mächtigen Playern USA, China bzw. Asien und dem aggressiven Russland zu behaupten?

Weckruf und Chance
Wolle Europa in Zukunft eine geopolitische Rolle spielen, müsse es stärker zusammenarbeiten, ist Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), überzeugt – und ist mit seiner Ansicht nicht allein. Für Neumayer ist die Zeit, die wir gerade erleben, ein Weckruf, aber „bei all den Herausforderungen auch eine enorme Chance, näher zusammenzustehen“. Will Europa als Mittelmacht wahrgenommen werden, sollte es jetzt das „Window of Opportunity“ nutzen. Geht es nach der IV, heißt das vor allem den Binnenmarkt vertiefen und geopolitische Stärke beweisen.

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Andreas Treichl, EFA Board

Andreas Treichl, Präsident des Forum Alpbach und Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung, verweist auf die Dringlichkeit der Veränderungen: „Natürlich tragen weder die EU noch die europäischen Staaten Verantwortung für das, was in der Ukraine passiert ist, aber wir bekommen gerade die Rechnung für die Versäumnisse der letzten 25 Jahre präsentiert.“ Eines der Hauptprobleme ist, dass die EU-Staaten 40 Prozent ihres Gasbedarfs aus Russland beziehen und noch nicht genug in die eigene Energieversorgung investiert haben, sodass sie derzeit nicht geschlossen auf diese Energieversorgungsquelle verzichten können. So fehlt ein entscheidendes Druckmittel, auch wenn die EU als Antwort auf den Krieg schon bemerkenswerte Sanktionen gegen Russland verhängt hat.

Wir sollten eine möglichst große Unabhängigkeit anstreben.

Andreas Treichl, EFA Board


Das Ende der Naivität
Ein weiteres Versäumnis wird angesichts der Aggression und Drohgebärden Russlands in der Verteidigungspolitik gesehen. Die EU wurde lange als Friedensprojekt propagiert. Wie sich jetzt herausstellte, so Andreas Treichl, „war der Glaube, dass wir als EU langfristig ein wirtschaftlich und politisch starker Partner auf der Welt sein können, obwohl wir energieabhängig sind und keine Möglichkeit haben, unsere Grenzen zu schützen, etwas naiv“. Jetzt komme es in Brüssel und den großen europäischen Staaten zum Erwachen: „Es ist tragisch für die ukrainische Bevölkerung und sehr bedenklich für Europa, dass dieser Krieg notwendig war, um die EU zu einem Umdenken zu bringen.“ Doch die Ereignisse scheinen Wirkung zu zeigen, wie die rasch installierten Sanktionen gegen Russland zeigen. Treichl: „Was man in den letzten Wochen aus Europa gehört hat, kann einen positiv stimmen. Bei aller Dramatik und Tragik wächst die Hoffnung, dass in den nächsten zehn bis 20 Jahren ein fundierteres und besseres Europa entstehen kann.“ Treichl hofft, dass die EU ihre Trägheit nicht nur temporär überwindet: „Wir hatten auch zu Beginn der Pandemie ein paar Wochen das Gefühl, dass die europäische Politik zusammenrückt. Das hat aber nicht sehr lange gedauert.“ Dennoch hat er „eine gewisse Hoffnung“, dass es diesmal ein dauerhafteres Zusammenrücken geben werde.

Martin Selmayr
Martin Selmayr, Europäische Kommission

Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, zeigt sich wesentlich optimistischer: „Beim Krieg, den Putin über Europa gebracht hat, hat die Europäische Union sehr, sehr schnell und sehr geschlossen sehr wichtige und schmerzhafte Sanktionspakete beschlossen, übrigens vor den USA.“ Man habe „in wenigen Stunden Beschlüsse getroffen, die früher Wochen, Monate, ja sogar Jahre gebraucht hätten“. Man zeige damit, dass Europa nicht erst jetzt zusammenwachse, sondern trotz aller Unterschiede bereits eine ganz starke gemeinsame Werte-Grundlage habe: „Wenn es um den Frieden, wenn es um unsere Werte, wenn es um unsere Freiheit geht, stehen wir Europäer ganz besonders stark und auch schnell zusammen, wie man in diesen Tagen sieht.“

Wenn es um unsere Freiheit geht, stehen wir Europäer besonders stark und auch schnell zusammen.

Martin Selmayr, Europäische Kommission

Beschleuniger der Solidarität
Generell sind laut Selmayr Krisenzeiten immer Zeiten, in denen Europa stärker zusammenwachse: „Krisen wirken in Europa wie ein Beschleuniger der Solidarität.“ Als Beispiel nennt er die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/9, die von den USA ausging und auf Europa überschwappte: „Die Finanzkrise hat uns Europäer gezwungen und motiviert, das unvollkommene europäische Haus zu festigen, neue Wände einzuziehen, neue Grundlagen zu schaffen, den Europäischen Währungsfonds zu gründen und die Europäische Zentralbank zur Bankenaufseherin zu machen, worauf man sich vorher nicht einigen konnte.“ Ein zweites Beispiel sei die Corona-Krise. Früher habe der Grundsatz geherrscht, dass sich Europa aus der Gesundheit heraushalten muss. Doch auf einmal habe die EU gemeinsam Impfstoffe auf dem Weltmarkt eingekauft, sie gemeinsam entwi­ckelt und dafür gesorgt, dass die Bevölkerung in Europa jene Bevölkerung ist, die am meisten durchgeimpft ist: „Das wäre zwei Jahre vorher nicht vorstellbar gewesen.“
Was bei Selmayr fast euphorisch klingt, hört sich bei Velina Tchakarova, Direktorin des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES) mit Sitz in Wien viel kritischer an: „In Europa reagieren wir sehr oft erst auf Krisen, wenn sie schon entstanden sind oder sich fortentwickelt haben.“ Das liege an der komplexen europäischen Entscheidungsfindung mit den unterschiedlichen Dimensionen und Ebenen. Da sind zum einen die institutionellen Akteure in Brüssel, zum anderen die 27 Mitgliedsstaaten – und die sind bekanntermaßen selten einer Meinung, was bei Entscheidungen, die Einstimmigkeit verlangen, Stillstand bedeutet. „Gerade, wenn es um Krisen geht“, sagt Tchakarova, „erschwert der enorm komplex gewordene Entscheidungsprozess sehr oft die Anpassungsfähigkeit der EU als kollektiver Akteur.“ Er mache uns langsamer und oft reaktionär. Tchakarova: „Und auch bei der grundlegenden Fragestellung, wie die Weltordnung aussehen wird, unterscheiden sich die Meinungen in den Mitgliedstaaten und Institutionen.“

Bipolare Weltordnung
Tchakarova deutet die aktuellen geopolitischen und geoökonomischen Ereignisse als Entwicklung zu einer bipolaren Weltordnung: „Die meisten Experten sind von einer multipolaren Ordnung ausgegangen. Ich gehe davon aus, dass sich zwei gravierende Machtzentren herausbilden: eines um die USA herum und eines um China und Asien herum.“ Die USA wollen sich demnach zunehmend von Europa und vom Nahen Osten abwenden und sich dem Indopazifik zuwenden und auch Partnerschaften mit Nicht-NATO-Staaten schließen. Und China hat bereits starke Macht, etwa in Süd- und Zentralasien und im maritimen Raum wie dem südchinesischen Meer. Auch Russland habe sich für die Partnerschaft mit China entschieden: „In Europa wurde die systemische Dimension übersehen, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine nie gestartet hätte, hätte sich Moskau nicht auf China verlassen. Viele westliche Alliierte haben erst jetzt realisiert, dass etwas Ernsthafteres dahintersteckt als gedacht.“

Velina Tchakarova,  AIES
Velina Tchakarova, AIES

All das sind keine guten Nachrichten für Europa, das mit seiner wertebasierten Ordnung laut Tchakarova in einer multipolaren Weltordnung viel mehr Vorteile hätte. Da sich Europa schon aus menschenrechtlichen Gründen nicht auf die chinesische Seite schlagen könne, werde es in eine stärkere wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit der USA geraten, glaubt sie. So wird es zum Beispiel in Folge des Kriegs Flüssiggas aus den USA einkaufen und so rund ein Drittel des russischen Gases ersetzen. Im Gegensatz zu Eu­ropa haben die USA schon seit Jahren intensiv daran gearbeitet, energietechnisch zu Selbstversorgern zu werden –, wenn auch durch die aus Umweltsicht fragwürdige Fracking-Technologie. In Europa wird der Fokus auf erneuerbare Energien gelegt, aber der Wandel geht bisher noch viel zu langsam: Nach wie vor werden fossile Energiequellen ausgebeutet, was auch den Klimawandel rascher vorantreibt.

Europa könnte zu einem geopolitischen Hinterhof der internationalen Beziehungen werden.

Velina Tchakarova, AIES

Problemlösung durch Kooperation
Dass jetzt ein Turbo auf den Ausbau erneuerbarer Energien gelegt werden muss, bezweifelt kaum jemand in der EU. Doch das verlangt enorme Investitionen – in einer Zeit, wo die Länder unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie leiden. Mariana Kühnel, stellvertretende Generalsekretärin der Wirtschaftskammer Österreich, hofft, dass die Politik die richtigen Schlüsse aus dem Ukraine-Krieg zieht und die Energiefrage ganzheitlich in der EU angeht und so beim Erneuerbaren-Ausbau rasch vorwärtskommt. Bezogen auf die österreichische Wirtschaft werden im Rahmen der Exportstrategie bereits Maßnahmen vorgezogen, um mit der Außenwirtschaftsorganisation Außenwirtschaft Austria die österreichischen Betriebe stärker in alternativen Märkten zu etablieren – in erster Linie in Südostasien, in einigen afrikanischen Ländern und im Nahen Osten. Zu China sagt sie: „Wir waren als Wirtschaftskammer immer der Meinung, dass wir in Österreich nicht nur auf einzelne große Märkte wie etwa den chinesischen schauen sollen, sondern uns mit Nachdruck um andere Märkte kümmern müssen. Denn China bietet nicht nur riesige Absatzmöglichkeiten, es strebt auch eine dominante Position an.“ Aber wir könnten uns auch nicht abschotten: „Chinas Macht wächst und wächst – und die Wettbewerbsfähigkeit wird noch steigen.“
Es geht also nicht um ein Ende der Globalisierung. Kühnel: „Die große Doktrin des Westens und insbesondere der EU lag bisher darin, über den Handel mit anderen Ländern auch die eigenen demokratischen Grundwerte zu exportieren und den Raum des Friedens, der Freiheit und der Stabilität immer weiter zu vergrößern. Dieser Weg schafft wirtschaftliche Prosperität, Wohlstand und Chancen – in Europa und in anderen Teilen der Welt.“ Kühnel ist überzeugt, „dass wir die globale Vernetzung weiterhin brauchen“. Die EU habe hier eine Vorreiterrolle, die sie auch in Zukunft mit ihrem ganzen Gewicht ausüben sollte: „Die Welt kann große Probleme nur mit mehr Kooperation lösen.“

Diversifizieren bei Allianzen
Auch Velina Tchakarova, die aktuell an einem Buch über den Einfluss Chinas und Russlands in der Welt schreibt, hält es für wichtig, dass sich Europa stärker diversifiziert, nicht nur bei der Energie, sondern auch bei Partnerschaften und Allianzen. Sie weist darauf hin, dass es das größte demografische und Wirtschaftswachstum im Indopazifik geben wird, also vor allem in Südasien und Afrika. Auch am anderen Pol stärken sich die Mächte, was etwa am sicherheits- und verteidigungspolitischen Pakt AUKUS abzulesen ist, den Australien, Großbritannien und die USA 2021 geschlossen haben. Europa sollte laut Tchakarova alte Partnerschaften vertiefen und neue schließen. Als Beispiel nennt sie die Infrastruktur-Initiative Global Gateway der Europäischen Kommission, die eine Art Konkurrenz zu Chinas Belt and Road Initiative darstellt und 300 Milliarden Euro umfasst, von denen die Hälfte Afrika gewidmet ist: „Europa kann einen dritten Weg gehen, indem es beispielsweise in den Beziehungen zu afrikanischen und indopazifischen Ländern ­Nischen findet.“ Doch all das müsse gewagter angegangen werden: „Wir sollten uns an die Arbeit machen und die Weichen stellen anstatt abzuwarten, dass andere ihre Ideen umsetzen. Sonst füllen die anderen die Lücken und drängen Europa von den Weltmärkten, von Partnerschaften und Allianzen.“ Hier heißt es, aktiv zu werden: „Wir müssen stärker an diese Teile der Welt rücken, und die Initiative muss von uns kommen, denn die anderen werden sie nicht ergreifen.“
Tchakarovas größte Befürchtung ist, „dass Europa zu einem geopolitischen Hinterhof der internationalen Beziehungen werden könnte“. Sie hält es für wichtig, dass wir, wie Ursula von der Leyen sagte, die Sprache der Macht lernen. Das heißt auch mehr Zusammenarbeit und Investitionen in die gemeinsame Sicherheit und Verteidigung. Martin Selmayr von der Europäischen Kommission betont, dass wir deshalb nicht zu Kriegsbeteiligten werden: „Wir werden selbst nicht in diesen Krieg eintreten, denn wir haben aus der Geschichte gelernt, dass das zu einer Eskalation führen kann.“ Würde etwa die NATO in den Krieg eintreten, würde das zu einem nuklearen oder einem Weltkrieg – oder beidem – führen: „Das wollen wir auf jeden Fall verhindern. Deshalb unterstützen wir die Ukraine dabei, ihr Recht aus der Charta der Vereinten Nationen wahrzunehmen, sich selbst gegen den grob völkerrechtswidrigen Angriff Russlands zu verteidigen.“ Mit einer 2018 geschaffenen Budgetlinie finanziert die EU derzeit die Lieferung von Defensivwaffen im Wert von 1,5 Milliarden Euro an die Ukraine – und es kann noch mehr werden.

Beistand bei Angriff
Um sich auf Schreckensszenarien wie einen Angriff auf ein EU-Land vorzubereiten, wurden in den baltischen Staaten, Polen und der Slowakei je rund 1.000 Mann stationiert, auch wenn das laut Selmayr eher symbolische Truppenstationierungen sind. Er verweist auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), konkret auf Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags. Diese „Beistandsklausel“ regelt, dass im Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedstaat die anderen Mitgliedstaaten diesem Staat alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung schulden. Selmayr: „Auch neutrale EU-Mitgliedstaaten sind dadurch geschützt. Das ist wichtig: Wenn Schweden, Finnland oder Österreich einem Angriff ausgesetzt würden, würde die Europäische Union zusammenstehen und diese Staaten verteidigen und schützen.“ Wenn ein Angriff erfolge, „dann werden alle Staaten Europas und die USA angegriffen. Und das ist das Wichtigste, um einen Angriff abzuschrecken.“ Auch einen abgestimmten und gemeinsamen Waffenkauf hielte Selmayr für effizient.
Laut Velina Tchakarova ist die Welt mit dem Krieg in der Ukraine in einen zweiten Kalten Krieg eingetreten. Durch eine starke Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik würden auch der Multilateralismus, Europas regelbasierte Weltordnung, seine Allianzen und Partnerschaften und Normen-Regelwerke gestärkt. Gelinge das nicht, „werden wir nicht als glaubwürdiger externer Akteur wahrgenommen“. Andreas Treichl glaubt allerdings nicht, dass Europa – als Union oder Kontinent – es unbedingt auf Macht anlegen müsse: „Ich glaube, dass wir eine möglichst große Unabhängigkeit anstreben sollten.“ Trotz der vielen Unterschiede in den Ländern gebe es auch sehr viele gemeinsame – vor allem wirtschaftliche – Interessen: Auch er ist für eine starke Verteidigungs- und Energiepolitik in Europa und vor allem „für eine sehr starke europäische Wirtschaftsunion“. Noch sei sehr viel zu tun, denn „Europa ist noch keine Datenunion, keine Netzwerkunion, keine Verkehrsunion, keine Bildungsunion, keine Kapitalmarktunion und nur in Ansätzen eine Finanzunion“. All das müssten wir schaffen, wenn wir wollen, dass Europa von der Stärke seiner gesamten Wirtschaft profitieren kann.

Partnerschaft auf Augenhöhe
IV-Generalsekretär Christoph Neumayer sieht es als nötig an, neben der Vertiefung des EU-Binnenmarkts gemeinsam in strategische Zukunftsfelder zu investieren, wie es etwa bereits mit dem Chips Act und dem Zurückholen der Halbleiter- und Chips-Produktion sowie den Investitionen in die Batterieerzeugung im Rahmen von Indus­trial Projects of Common European Interest (IPCEI) passiert: „Wir sollten uns in Europa fragen, wie wir uns bei strategischen Herausforderungen, bei Gütern und Innovationsleistungen noch besser aufstellen können und wie die Wettbewerbspolitik hier gute Arbeit leisten kann.“ Viele Unternehmen würden über ein Zurückholen von strategisch wichtigen Teilen ihrer Produktion nach Europa nachdenken. Doch dabei brauchen sie laut Neumayer Unterstützung durch rechtliche Rahmensetzung, sodass die Produktion in Europa etwa auch leistbar ist. Auch er stellt die Globalisierung nicht infrage, aber es müsse auf stärkere Diversifizierung geachtet werden. Partnerschaften müssen dabei „auf Augenhöhe passieren“. Wir müssen für Europa „einen guten Mittelweg finden, wie wir von Kooperationen profitieren, ohne blauäugig zu sein“. Was das oft bremsende Einstimmigkeitsprinzip in der EU betrifft, glaubt er, dass die EU-Verträge mehr Spielraum für Mehrheitsbeschlüsse bieten, insbesondere in der Außenpolitik. Und bei der Energiepolitik wünscht sich Neumayer mehr Realismus: „Wir müssen schnell autonomer in der Energieversorgung werden, aber die gesteckten Ziele müssen auch erreichbar sein.“

IV-GeneralsekretAEr Mag. Christoph Neumayer
IV-GeneralsekretAEr Mag. Christoph Neumayer

So groß die Herausforderungen sind: Europa hat die Chance, an ihnen zu wachsen. Und gerade, wenn da und dort wieder Nationalismen erstarken, kann es nicht schaden, aus dem gemeinsam Erreichten Kraft für die nächsten – sehr großen – Schritte zu schöpfen. Mariana Kühnel, WKO, sagt: „Nicht nur die EU, die freie westliche Welt hat bewiesen, dass sie zusammensteht, wenn es hart auf hart kommt: Die EU, die USA und viele andere Länder haben auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine in einer bisher nicht dagewesenen Einigkeit reagiert – mit scharfen Sanktionen und einer Isolation Russlands.“ Auch Velina Tchakarova sieht „durchaus große Chancen für Europa im Rahmen der Transformationsprozesse“, wenn auch mit gravierenden Herausforderungen. Diese müssten die Mitgliedsstaaten, die Institutionen und die Bürgerinnen und Bürger der EU gemeinsam meistern.