Vom digitalen Zwilling lernen
„In drei bis fünf Jahren werden Milliarden von Dingen durch digitale Zwillinge dargestellt“, hieß es schon 2017 im Bericht zu den Top 10 strategischen Technologie-Trends des US-Marktforschungsunternehmens Gartner. Und seitdem findet sich der digitale Zwilling jedes Jahr in Gartners bekannter Top-10-Liste. Doch worum handelt es sich dabei? Das dürften zumindest in Österreich noch nicht viele Unternehmen wissen – jedenfalls haben hierzulande noch wenige einen solchen realisiert.
Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles Software-Modell eines physischen Gegenstands oder Prozesses. So kann zum Beispiel eine einzelne Pumpe in einer Fabrik, eine Maschine oder auch der ganze Produktionsprozess einen digitalen Zwilling haben. Sensoren an den Maschinen sammeln Daten über Druck, Temperatur, Schall und Co., wie es in der Industrie 4.0 Standard ist. Diese Daten werden in ein virtuelles Modell überführt, in das auch weitere relevante Daten wie zum Beispiel Standortdaten der Maschinen, Bestellungen oder Umsatzzahlen einfließen können. So kann auf verschiedene Arten an der Produktion gefeilt werden: Es können etwa Maschinen überwacht und sich anbahnende Störungen erkannt werden, das Kaputtgehen von Teilen vorhergesagt werden (Predictive Maintenance), Maschinen optimiert, Produktabläufe automatisch angepasst oder Simulationen erstellt werden, um nur einige Möglichkeiten zu nennen.
Wartezeiten minimieren
Bei Hirsch, einem Kärtner Produzenten von hochwertigen Armbändern für Uhren, wird derzeit an der Einführung eines digitalen Zwillings gearbeitet – und das, obwohl dort immer noch viele Arbeitsschritte in Handarbeit erfolgen. Der digitale Zwilling soll spätestens 2023 umgesetzt sein. Die mit Sensoren wie RFID-Chips ausgestatteten Materialien und Maschinen werden dann einen ständigen Strom an Daten liefern. Eine Künstliche Intelligenz, die etwa auch auf den Auftragsstatus Zugriff hat, wird in Echtzeit Vorschläge für die Reihung der Produktionsschritte an den einzelnen Arbeitsstellen machen, sodass der Ablauf schnell, ressourcenschonend und effizient ist.
Das Ziel dahinter ist laut Matthäus Hirsch, Leiter der Technik und Supply Chain, Wartezeiten zu minimieren und schnell auf Störfälle reagieren zu können.
Jörg Triebnig, zuständig für das Österreichgeschäft des amerikanischen Software-Anbieters OSISoft, der auf industrielles Echtzeit-Datenmanagement spezialisiert ist, erklärt den Nutzen des digitalen Zwillings an einem Beispiel: „Wenn clevere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bemerken, dass zum Beispiel die Produkte aus der Montagmorgenschicht immer wieder mangelhaft sind, sich aber nicht einfach erklären können, warum das so ist, können ihnen die Daten aus dem digitalen Zwilling helfen, die Ursachen zu finden.“ Natürlich spuckt das System nicht einfach die Antwort aus.
Der Mensch ist laut Jörg Triebnig für den digitalen Zwilling essenziell: „Ich brauche qualifizierte Betriebsingenieurinnen und -ingenieure und andere Mitarbeiter, die anhand ihrer Erfahrungen aus den Daten Informationen generieren.“ Ein guter digitaler Zwilling liefert diese leicht bekömmlich: „Der digitale Zwilling bildet die Datenströme so ab, dass sie schnell und anhand ihrer Struktur auffindbar sind. So kann sich zum Beispiel jeder, von der Ingenieurin über den Arbeiter bis zur Geschäftsführung, die Temperatur einer bestimmten Pumpe ganz leicht anschauen.“ Die Sensordaten werden historisiert und mit anderen Daten ergänzt, sodass Vergleiche zu ähnlichen Situationen möglich sind. Oder aber man vergleicht ganze Produktionsanlagen nach bestimmten messbaren Kenngrößen miteinander. Triebnig: „Als Manager interessiert mich zum Beispiel, ob die Anlage in London oder die in Paris für eine Aufgabe am besten geeignet ist.“
Leistbar für den Mittelstand
Die Größe eines Unternehmens ist nicht entscheidend, ob ein digitaler Zwilling Sinn macht. So hat OSISoft etwa einer kleinen schottischen Whiskeybrauerei zu einem digitalen Zwilling verholfen, der gerade einmal zwölf Datenströme beinhaltet. Shell dagegen, ebenfalls Kunde, operiert mit etwa 7,5 Millionen Datenströmen. In Österreich haben sich große Unternehmen wie Mondi, Novartis in Kundl oder RHI Magnesita auf dem Weg zum digitalen Zwilling von OSISoft unterstützen lassen. Jochen Borenich, Chief Operating Officer des IT-Systementwicklers und -Dienstleisters Kapsch BusinessCom, sieht große Chancen besonders für mittelständische Betriebe. Seit rund drei Jahren seien Standardkomponenten für die Anwendungen des Industriellen Internet of Things (IIoT) wie Sensorik, Netzwerke und Plattformen am Markt verfügbar, was auch einen digitalen Zwilling leistbar macht.
Oft ortet Jörg Triebnig von OSISoft hierzulande aber noch Skepsis: „Im österreichischen Management herrscht noch ein wenig Unsicherheit. Man scheut davor zurück, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen den Freiraum zu geben, damit sie mit Daten arbeiten können.“ Doch genau das sei notwendig, denn „die Innovationskraft kommt immer vom eigenen Team“. Sie kennen die Produktion am besten und sind sensibilisiert für die Maschinen und deren Eigenheiten. Triebnig: „Wenn ein Unternehmen keine innovationswilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat, die diese neue Technologie akzeptieren, ist das Geld zum Fenster rausgeworfen.“ Apropos Geld: Bei OSISoft, wo man auch mit Subscription-Modellen arbeitet, ist mit einer niedrigen fünfstelligen Summe pro Jahr als Mindestaufwand zu rechnen, und bei großen internationalen Industrieunternehmen können sich die Kosten auf bis zu mehrere Millionen belaufen. Bei Kapsch BusinessCom kann man mit einer Investition von 50.000 Euro ein Pilotprojekt installieren, mit dem sich laut Jochen Borenich beurteilen lasse, ob sich die flächendeckende Einführung lohne.
Vision und Reise
Ein Digital Twin ist jedenfalls keine Technologie, die, einmal eingeführt, alles gut und schön zaubert. Jörg Triebnig: „Ein digitaler Zwilling ist kein Projekt, sondern ein Programm. Es ist eine Vision, eine Unternehmensphilosophie und ein Weg, der nie aufhört und der von der Geschäftsleitung vollinhaltlich unterstützt werden muss.“ Und wird diese Reise viele Menschen ihre Arbeit kosten? Jörg Triebnig erlebt diesbezüglich in Gesprächen immer wieder Angst vor der Digitalisierung. Er glaubt hingegen, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze schaffen werde, räumt aber ein, dass es für diejenigen, die sich vor ihr verschließen, problematisch werden kann. Aber: „Diejenigen, die offen und bereit sind, diesen Weg zu gehen, werden bis zu ihrer Pensionierung Arbeit haben. Denn keine Software dieser Welt kann die Menschen ersetzen, sondern sie immer nur unterstützen.“