Gerade jetzt im Vertrieb strategisch denken

Verkauf
25.08.2022

 
Soll die Vertriebsstrategie primär darauf abzielen, möglichst hohe Preise und Gewinnmargen zu erzielen oder die Beziehung zu unseren Bestandskunden und unseren Kundenstamm auszubauen? Das fragen sich zurzeit viele Industriezulieferer und Anbieter im B2B-Bereich.
Vertrieb

„Wir haben in einer schwierigen Zeit unseren Umsatz und Ertrag gesteigert.“ Diese frohe Botschaft verkündeten in den zurückliegenden zwei Jahren nicht wenige börsennotierte Unternehmen auf ihren Jahreshauptversammlungen oder beim Veröffentlichen ihrer Quartalsberichte. Nicht selten lautete ihre Botschaft sogar: „Wir haben trotz eines gesunkenen Umsatzes unseren Gewinn im zweistelligen Bereich erhöht.“ Die Aktionäre der betreffenden Unternehmen freute diese Nachricht selbstverständlich. Doch ihre Kunden speziell aus dem B2B-Bereich? Die brachten solche Botschaften zuweilen ins Grübeln. Denn schließlich sind fast alle Top-Entscheider in den Industrieunternehmen betriebswirtschaftlich gut geschult, sofern sie nicht sogar Wirtschaftswissenschaften studierten. Deshalb war ihnen klar, ein solches Ergebnis kann man bei einem kaum gestiegenen oder gar gesunkenen Umsatz eigentlich nur durch massive Preiserhöhungen erzielen. Entsprechend wurden die guten Ergebnisse, denn auch meist begründet: „Unserem Unternehmen gelang es, höhere Preise am Markt durchzusetzen und höhere Gewinnmargen erzielen.“

Beziehung zu Stammkunden nicht gefährden

Ein solche Begründung mag im Konsumgüter-Bereich unproblematisch sein, in dem zumindest die „Big Player“ meist eine schier endlose Zahl von Kunden haben; anders sieht es im B2B-Bereich aus, in dem viele Anbieter weitgehend von ihrer guten, über viele Jahre gewachsenen Beziehung zu einer oft relativ kleinen Zahl von Kunden leben. Bei ihnen konterkariert eine solche Erfolgsmeldung nicht selten das Gejammer, das nicht wenige Verkäufer ihrer Lieferanten in der Zeit seit Ausbruch der Corona-Pandemie regelmäßig in den Verhandlungen anstimmten, mit Aussagen wie: „Auch wir haben wie Sie enorme Lieferketten- und Beschaffungsprobleme. Außerdem sind unsere Kosten explodiert – nicht nur für den Transport und die Energie, sondern auch für die benötigten Rohstoffe und Vorprodukte. Deshalb müssen wir unsere Preise um … Prozent erhöhen.“

Verkündet ein Unternehmen kurze Zeit nach einer so begründeten Preisanpassung im Extremfall „Wir haben trotz Umsatzeinbußen ein Rekordergebnis erzielt“, dann fragen sich seine Kunden zu Recht:

  • „Ist die Beziehung zu unserem Lieferanten wirklich so partnerschaftlich wie in den Vertragsverhandlungen stets betont?“ Und:
  • „Nutzt dieser Lieferant unsere aktuelle Notlage im Beschaffungsbereich nicht schamlos aus, um seine Gewinnmarge und Rendite zu erhöhen?“

Nicht selten gelangen sie zum Schluss: Letzteres ist der Fall. Deshalb klagen zurzeit nicht wenige B2B-Einkäufer, ein Teil ihrer Lieferanten, von denen sie zur Aufrechterhaltung ihrer Produktions- und Lieferfähigkeit abhängig seien, habe jegliches Maß verloren. Hätten sie ihr Unternehmen nach Ausbruch der Corona-Pandemie noch mit „Preiserhöhungen im einstelligen Bereich“ konfrontiert, so würden sie spätestens seit Ausbruch des Ukraine-Krieges regelmäßig bei ihnen mit Preissteigerungen im höheren zweistelligen Bereich vorstellig – „und zwar gefühlt im Wochenrhythmus“.

Preiserhöhungen nicht nur verkünden, sondern auch fundiert begründen

Inwieweit diese Klage berechtigt ist, sei dahin gestellt. Unabhängig davon belastet ein solches Empfinden jedoch die Beziehung der Kunden zu ihren Lieferanten. Entsprechend sauber sollten, nein müssen Preiserhöhungen gerade in der aktuellen Ist-Situation mit Zahlen, Daten und Fakten belegt werden – zumindest wenn der Lieferant die partnerschaftliche Beziehung zu seinem Kunden nicht gefährden möchte.

Dies ist in der Praxis leider oft nicht der Fall. Deshalb schlucken viele Unternehmen zwar aktuell die in ihren Augen überzogenen Forderungen ihrer Lieferanten – mangels Alternative. Damit einher geht jedoch ein Bröckeln der bestehenden Vertrauensbasis, die die Einkäufer und ihre Vorgesetzten darüber nachdenken lässt: Wie können wir unsere Abhängigkeit von unserem Lieferanten, wenn nicht lösen, so doch verringern – zum Beispiel, indem wir

  • weitere Lieferanten ins Boot holen oder
  • gewisse Vorprodukte wieder selbst produzieren oder
  • auf andere Fertigungs-/Produktionsverfahren ausweichen oder
  • …..?

Dass bei den Bestandskunden ein solcher Denkprozess in Gang kommt, kann nicht im Interesse eines Industrielieferanten liegen. Entsprechend maßvoll sollten sie insbesondere bei ihren Schlüsselkunden mit ihren „Preisanpassungen“ sein.

Ziel: Die Kundenbeziehungen und den Kundenstamm ausbauen

Stattdessen sollten sie verstärkt darüber nachdenken, wie sie die aktuelle Marktsituation

  • zum Ausbauen ihrer Beziehung zu ihren Bestandskunden und
  • zum Anbahnen neuer Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die das Potenzial haben, mittel- und langfristig Schlüsselkunden zu werden,

Nutzen können. Denn in Zeiten wie den aktuellen, in denen sich die Rahmenbedingungen ihres Handels fundamental gewandelt haben, überdenken die meisten Unternehmen ihre bisherigen Handlungsstrategien – auch im Beschaffungsbereich. Also sind sie auch offen für neue Problemlösungen. Deshalb sollten ihre (potenziellen) Lieferanten ernsthaft prüfen, inwieweit es aktuell nicht zielführender wäre, kurzfristig auf einige Euro Gewinn zu verzichten, um die Marktposition ihres Unternehmens zu stärken und dieses mittel- und langfristig noch erfolgreicher zu machen.

Das geschieht in der Praxis selten, auch weil in den letzten Jahren nicht wenige Vertriebsmannschaften – oft unter dem Lable einer falsch verstandenen Mehrwert- bzw. Added-Value-Strategie – darauf getrimmt wurden, eine möglichst hohe Gewinnmarge zu erzielen. Im Bereich langfristiges strategisches Denken wurden sie hingegen kaum geschult. Dabei ist dieses gerade im B2B-Bereich sowie im Projektgeschäft, in dem es oft Jahre dauert, Neukunden für sich gewinnen, unverzichtbar.

Verkäufer denken und handeln oft zu wenig langfristig strategisch

Gefördert wird das auf eine kurzfristige Gewinnmaximierung abzielende Denken vieler Verkäufer auch dadurch, dass sich ihre Entlohnung noch weitgehend am generierten Auftragsvolumen bzw. Umsatz und den erzielten Gewinnmargen orientiert. Eher selten fließen in sie in einem relevanten Umfang auch solche Ziele bzw. Fragen ein wie:

  • Mit wieviel Unternehmen, die das Potenzial zum Schlüsselkunden haben, wurden Erstaufträge erzielt?
  • Wie oft wurde unsere neue Problemlösung xy, die mittelfristig eine Cash-Cow von uns werden soll, verkauft?
  • Um wieviel Prozent wurde der Lieferumfang bei den Schlüsselkunden x und y erhöht?
  • Bei wieviel Kunden gelang es uns vom Second-Tier zum First-Tier aufzusteigen, also dessen wichtigster Lieferant zu werden?
  • Mit welchen und wie vielen Kunden konnten wir in diesem Jahr längerfristige (Liefer-)Vereinbarungen abschließen?
  • ………

Deshalb werden solche „strategischen Ziele“, deren Erreichen meist echte Knochenarbeit ist und viel „Gehirnschmalz“ erfordert, von vielen B2B-Verkäufern in ihrem Arbeitsalltag, sofern sie überhaupt formuliert und vereinbart wurden, vernachlässigt. Dabei sind die Rahmenbedingungen für das Erreichen solcher Ziele aktuell, also in einer Zeit in der viele Unternehmen

  • ihre bisherigen Handlungs- und Einkaufsstrategien sowie Problemlösungen ohnehin überdenken und
  • bei ihren Einkaufsentscheidungen außer den unmittelbaren Produktvorteilen und dem Preis auch zunehmend solche Faktoren wie Lieferfähigkeit und -sicherheit, Planbarkeit und Nachhaltigkeit beachten,

nahezu ideal.

Im Team Vertriebskonzepte für den veränderten Markt entwickeln

Deshalb sollten viele Industrielieferanten und -dienstleister zeitnah zum Beispiel moderierte Klausurtagungen mit ihrem Vertrieb durchführen, an denen auch Vertreter ihres Einkaufs teilnehmen. In ihnen sollten die Vertriebsmitarbeiter zunächst darauf eingestimmt werden, inwieweit sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und somit auch Zielsetzungen im Vertrieb gewandelt haben, weshalb auch ein teils anderes Verkäuferverhalten gefragt ist. Im zweiten Schritt sollten die Klausurteilnehmer dann gemeinsam definieren, welche realistischen Leistungsversprechen das Unternehmen seinen verschiedenen Kundengruppen aktuell geben kann – zum Beispiel aufgrund seiner eigenen Beschaffungs- und Produktionssituation. Hierauf aufbauend sollten dann grundsätzliche Konzepte entwickelt werden, mit denen

  • zum einen den Kunden beispielsweise die gewünschte Versorgungssicherheit und relative Budget-Planbarkeit gewährleistet werden kann und
  • zum anderen das Unternehmen seine strategischen Ziele erreicht.

Ein solches Konzept kann beispielsweise beinhalten, dass die Verkäufer und Vertriebsteams in den Verhandlungen längerfristige Beauftragungen wie etwa Abrufaufträge anstreben, die

  • dem Kunden jedoch eine gewisse Flexibilität zum Beispiel durch ein Wandlungsrecht bieten und
  • die Preise an einen fairen Index koppeln.

Diese Konzepte gilt es nach der Klausur in bereichsübergreifenden interdisziplinären Teams beispielsweise bestehend aus Vertretern des Einkaufs und Vertriebs, der Finanz- und Rechtsabteilung sowie Produktion auszuarbeiten. Entsprechende Konzepte sollten auch für potenzielle Neukunden entwickelt werden, die ein hohes Umsatzpotenzial haben, weshalb sich ein verstärktes Engagement bei ihnen lohnt. Welche dies sind sollte ebenfalls definiert und in den Zielvereinbarungen mit den Verkäufern und Vertriebsteams fixiert werden.

Die Verkäufer motivieren und fit machen für die modifizierten Vertriebsziele

Auf alle Fälle sollten die neu ausgerichteten Ziele sich auch im Entlohnungssystem widerspiegeln. Denn die in ihm enthaltenen Kriterien, nach denen die Verkäufer eine Provision erhalten, spiegeln – nicht nur aus Verkäufersicht – letztlich das wider, was dem Unternehmen wirklich wichtig ist.

Zum Autor: Peter Schreiber ist Inhaber der B2B-Vertriebs- und Managementberatung Peter Schreiber & Partner. Er ist u.a. Dozent an der IHK-Akademie München in Westerham sowie Lehrbeauftragter an der Hochschule Mannheim.