Engpass voraus!
Exakt vorhersagen, welche Produkte in 14 Tagen knapp werden? Das verspricht ein Dashboard von Fraunhofer Austria. Die Regierung prognostizierte damit in der Pandemie Lebensmittelengpässe. Jetzt wird es von Unternehmen genutzt, die ihre Lieferketten widerstandsfähiger machen wollen.


Als vor gut einem Jahr der erste Corona- Lockdown begann, machte die Bevölkerung Hamsterkäufe, weil sie fürchtete, dass es viele Produkte wegen der Grenzschließungen nicht mehr ins Land schaffen würden. Die Supermarktregale waren kurzfristig leergeräumt. Klopapier und Germ gehörten zu den Top-Sellern jener Tage. Zwar bestätigten sich die schlimmsten Ängste nicht: Es kam zu keinen ernsthaften Lebensmittel-Knappheiten. Dennoch zeigte die Situation die Schwächen internationaler Lieferketten auf. Zum Beispiel konnten aus dem von Corona gebeutelten Italien eine Zeit lang keine Teigwaren geliefert werden.
Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer Austria und Leiter des Forschungsbereiches für Betriebstechnik, Systemplanung und Facilitymanagement am Institut für Managementwissenschaften der TU Wien, sagt: „Vor 18 Monaten noch hätte sich niemand vorstellen können, dass es zu Lieferschwierigkeiten zwischen Italien und Österreich kommen könnte. Die Pandemie hat die Schwächen der Lieferketten transparent gemacht.“ Plötzlich war klar: In Extremsituationen kann es zu Konsequenzen wie Grenzschließungen kommen, und dann kann die Lebensmittelversorgung tatsächlich bedroht sein. Doch was tun? Schließlich lassen sich extreme Ereignisse kaum vorhersagen. Das Zauberwort der Stunde heißt Resilienz. Sihn: „Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, auf außergewöhnliche Belastungen positiv zu reagieren. Es ist eines der großen Themen in Unternehmen, weil sie jetzt begriffen haben, wie schwach oder gefährdet ihre Lieferketten sind.“ Produzenten oder Handelsunternehmen streben mehr denn je danach, ihre Lieferketten resilienter zu machen, sodass eine Pandemie, aber auch Ereignisse wie politische Unruhen, Erdrutsche oder andere Naturkatastrophen die Versorgung nicht stoppen. Sihn: „Es gibt tausend mögliche Gründe, warum Lieferketten nicht mehr funktionieren können.“
ALTERNATIVEN SCHAFFEN
Um die Gefahren immer im Blick zu haben, hat sich Fraunhofer Austria der Daten der Lebensmittelhändler bedient und mit dem PRESIDE-Dashboard ein interaktives Tool erstellt, das auf Datenbanken zugreifen kann. Da das System laufend die aktuellen Liefer- und Lagerdaten der Lebensmittelhändler abrufen kann, lässt sich damit feststellen, wann bestimmte Lebensmittel knapp werden. Sihn: „Wir haben die Bestands- und Bewegungsdaten der großen Lebensmitteleinzelhändler genutzt und wussten, was sie in ihren Zentrallagern gelagert haben und was in welche Filiale geht. Diese Datensätze kamen aus den Warenwirtschaftssystemen der Handelsunternehmen.“ Wird zum Beispiel die Grenze zu Deutschland geschlossen oder führt ein Land bestimmte Waren nicht mehr aus, kann das Dashboard mithilfe von künstlicher Intelligenz „mit hoher Wahrscheinlichkeit vorhersagen, ob in 14 Tagen ein Produkt knapp wird“, so Sihn. Das ist ein Zeitraum, in dem sich Unternehmen mitunter noch um Alternativen kümmern können. Das funktioniert insbesondere dann, wenn sie auch rechtzeitig dafür gesorgt haben, dass sie nicht nur von einem Lieferanten abhängig sind, sondern eine sogenannte Multiple-Sourcing- Strategie anwenden. Gleiches gilt für die Transportwege: Je flexibler Unternehmen hier sind und zum Beispiel rasch vom LKW- auf den Bahnverkehr oder vom Flugzeug aufs Schiff umplanen können, umso besser und schneller können sie auf kurzfristig auftretende Probleme in der Lieferkette reagieren. Fraunhofer Austria stellte der Regierung zu Beginn der Pandemie wöchentlich die Auswertungen aus dem PRESIDE-Dashboard zur Verfügung und ist Teil der Covid-19-Future-Operations-Plattform (FOP), einer Expertenplattform zur Förderung des wissenschaftlichen Diskurses während der Pandemie.
REAGIEREN, BEVOR ES KNAPP WIRD
Derzeit gibt es zwar keine Engpässe bei Lebensmitteln, aber sehr wohl bei anderen Waren wie etwa Halbleitern, auf die unter anderem die Automobilindustrie angewiesen ist. Und da es dem Dashboard egal ist, ob es Daten zu Klopapier oder Nudeln oder Auto-Zulieferteilen verarbeitet, bietet Fraunhofer das Tool jetzt auch Unternehmen an, die rechtzeitig erfahren wollen, falls in den kommenden Wochen bestimmte Produkte oder Teile nicht lieferbar sein werden. Rainer Pascher, Head of Digital Logistics and Automation bei der Fraunhofer Austria Research GmbH, sagt: „Wir nutzen die gewonnenen Erkenntnisse aus dieser Entwicklung auch für Industriebetriebe, die ihre Lieferketten analysieren wollen.“ Im Dashboard, das die Daten auf einer Landkarte visualisiert, lasse sich auf einen Blick erkennen: „Wo sind meine größten Lieferanten? Welche Mengen liefern sie mir, und welche Transportrouten nutzen sie? Ich sehe auch, wo meine Kunden sitzen und welche Produkte in welchen Mengen ich an welche Kunden liefere.“ So können die Betriebe rasch reagieren, wenn ein Lieferant ausfällt: „Da ich durch das Dashboard die maximale Transparenz über meine Supply-Chain habe, kann ich schon Maßnahmen einleiten, bevor es zu Problemen in der Lieferkette kommt.“
„Die Pandemie hat Schwächen der Lieferketten transparent gemacht“, Wilfried Sihn, Fraunhofer Austria
DATENQUALITÄT ENTSCHEIDEND
Fraunhofer bereitet die Daten der Kunden zunächst auf, weil diese meist sehr heterogen sind, also zum Beispiel in verschiedenen Dateiformaten daherkommen. Generell gilt laut Pascher: „Es gibt keine Daten, die wir nicht visualisieren können: Das fängt bei den Verkehrsdaten der Asfinag an und geht bis zur Buchungszeile, wer welches Glas Nutella gekauft hat.“ Wichtig ist nur, dass die Unternehmen die Daten – in ausreichender Qualität – überhaupt haben. Falls nicht, können die Stationen der Lieferkette mit Sensoren ausgestattet werden, die diese Daten sammeln und in Echtzeit in das System einfließen lassen. Nach der Aufbereitung können die Kunden sich über eine Online-Plattform einloggen und auf das Dashboard zugreifen.
Das Dashboard ist laut Sihn und Pascher besonders im Maschinenbau, im Lebensmittelbereich, in der Elektronik und bei Automobil-Zulieferern im Einsatz. Als nächsten Schritt will man bei Fraunhofer die gesamte Lieferkette berücksichtigen, also auch Daten der Rohstoffproduzenten, Lieferanten und Verpackungshersteller. Wilfried Sihn verweist darauf, dass am Anfang der Pandemie zwar das Gemüse aus dem Marchfeld zur Verfügung stand, aber nicht die Verpackungen, da diese aus dem Ausland kamen und nicht über die Grenze gebracht werden konnten. Je mehr Daten, desto besser funktioniert auch das Frühwarnsystem – und dann sollte es in Zukunft nicht mehr zu Nudel-, Germ- oder Halbleiter-Engpässen kommen.