Dekarbonisierungs-Eiertanz
Fit for 55. Was früher wie ein Aufruf zur Gesundheitsvorsorge geklungen hätte, ist heute allgemein bekanntes Ziel für die Staaten Europas und somit auch für Österreich. Alle wissen, was damit gemeint ist. Im Jahr 2030 sollen die CO2-Emissionen dauerhaft um 55 % unter den Wert von 1990 gesenkt worden sein. Für Österreich heißt es sogar „fit for 61“. Weil der CO2-Ausstoß ein wenig außer Kontrolle geraten ist, müssen bis 2030 um 61 Prozent reduziert werden. Das betrifft im Wesentlichen zu jeweils gleichen Teilen die Sektoren Mobilität, Wohnen (Heizen/Kühlen) und die Industrie. Die Industrie hat sich, im Unterschied zu den anderen Bereichen, auf den Weg gemacht. Immerhin gilt für weite Teile der Industrieunternehmen das „CO2-Zertifikate-System“ und das kann in Zukunft teuer werden. Wer den Stufenplan der Dekarbonisierung nicht einhält, darf mit hohen Pönalen rechnen. Die Industrie ist somit auf europäischer Ebene der einzige volkswirtschaftliche Sektor, der auch in die Pflicht genommen wird. Geht sich das für uns alle aus?
Mit dieser Frage ist vor allem Joseph Kitzweger konfrontiert. Er ist beim Zementhersteller Lafarge für Nachhaltigkeit zuständig und seit Kurzem auch Geschäftsführer von C2PAT, einer von den Industriebetrieben Lafarge, OMV, Verbund und Borealis gegründeten Gesellschaft, deren Aufgabe darin besteht, die Dekarbonisierung zu orchestrieren. „Es hat geheißen: Schau, ob du das hinbekommst, dass das CO2 aus der Zementproduktion verschwindet “, lacht Kitzweger, „also habe ich einmal zu telefonieren begonnen.“ Diejenigen, mit denen er telefoniert hat, sind heute bei C2PAT mit dabei. Die Dekarbonisierung der Zementproduktion ist nämlich alleine nicht zu stemmen. Das geht nur in Kooperation mit Partnerfirmen. Zement ist eine Hard-to-Abate-Industry. Unter diesem Fachterminus versteht man Betriebe, die selbst in einer CO2-neutralen Welt noch CO2 ausstoßen werden. Zement, Kalk- und Feuerfestindustrie, Ziegelindustrie und Teile der Stahlindustrie gehören dazu. Beim Zement liegt es am Rohmaterial, das fast ausschließlich aus Kalkstein besteht. Im Verbrennungsofen verliert der Kalk ab 900 Grad fast die Hälfte seines Gewichts und diese Hälfte verpufft als CO2. Vor einigen Jahrzehnten noch wurden pro Tonne Zement mehr als 800 kg CO2 ausgestoßen, heute liegt der Wert in Österreich fast schon bei der Hälfte. Aber da stößt man zusehends an eine Schallmauer, viel weiter runter geht’s nicht. Also, was nun?
CO2 als Rohstoff?
Die Industriebetriebe haben gemeinsam eine bestechende Idee entwickelt. Man bekommt das CO2 zwar nicht aus der Zementproduktion heraus, aber man könnte es ja einfangen und als Rohstoff betrachten, aus dem dann andere wichtige Produkte hergestellt werden. Kunststoff zum Beispiel. Der braucht ja als Ausgangsbasis Erdöl und das abgeschiedene CO2 könnte sich da als Ausgangsmaterial als ebenso gut erweisen. Raffinerien etwa überlegen auch, ob es in Zukunft nicht auch als Basis für erneuerbar hergestellte Treibstoffe, zum Beispiel Kerosin, taugen würde.
Wenn das gelingt, dann könnten aus der Zementproduktion im größten Zementwerk Österreichs, dem Lafarge-Zementbetrieb im niederösterreichischen Mannersdorf, satte 700.000 Tonnen CO2 pro Jahr komplett abgeschieden und weiterverwendet werden. Diese enorme Menge würde dann einerseits in daraus entstehenden Kunststoffprodukten weiterleben und andererseits hätte man auf die entsprechende Menge an frischem Erdöl als Rohstoff verzichten können. Das wäre in der gegenwärtigen Energie-Krisensituation hilfreich, könnte man doch dadurch die Abhängigkeit von ausländischen Importen verringern. Die Vorzeichen, dass das gelingen kann, sind gut. Jetzt wird geprüft, ob es auch wirklich funktioniert und dafür möchte Lafarge mit seinen Partnern sein Werk in Mannersdorf mit einer 100 Millionen Euro teuren Demonstrations-Anlage zur CO2-freien Zementproduktion ausstatten.
Die Zeit fliegt
„Wir haben nur noch 28 Jahre Zeit“, erinnert Kitzweger, „und das ist ein Wimpernschlag.“ Es braucht nämlich ungefähr ein Jahrzehnt, um eine Breakthrough-Technologie überhaupt zu entwickeln. Das soll mit der Demonstrationsanlage in Mannersdorf gelingen.
Die Großanlage, die dann wirklich die ganzen 700.000 Tonnen abscheidet, könnte bereits 2030 stehen. Wenn sich das bewährt, braucht es danach ein Roll-out auf alle Hard-to-Abate-Industrien – von einem Zementwerk auf alle bzw. warum nicht im Sinne einer Technologieführerschaft Österreichs auch ein Roll-out in Europa und darüber hinaus! Ist also alles gut? Geht sich das aus? „Viele glauben, dass ist eh so ein großer Konzern“, sagt Kitzweger, „so als wäre es nur Taschengeld, so etwas zu entwickeln.“ Es geht aber um sehr viel Geld, um eine dichte europäische Konkurrenz und um ein kollektives Interesse. Da bräuchte es unbedingt die öffentliche Hand. Und die richtigen Signale und Förderrichtlinien aus Brüssel. Das gemeinsame Wollen sollte sich in einem gemeinsamen materiellen Bekenntnis ausdrücken. Das sieht aber auf europäischer Ebene derzeit eher wie ein Eiertanz aus.
Wir haben nur noch 28 Jahre Zeit.
Da wäre z. B. das größte europäische Förderinstrument zur Dekarbonisierung der Industrie, der europäischen Innovationsfonds, dotiert mit rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr, der jedes Jahr neu ausgeschrieben wird. Über 300 Projekte sind beim letzten Call eingereicht worden, was natürlich viel zu viel für so „wenig“ Geld ist. Im nächsten Schritt ist das auf 70 und dann auf sieben Projekte reduziert worden. Jedes erhält dann rund 170 Mio. Euro Förderbeitrag. Das C2PAT-Projekt war letztendlich nicht dabei. Auch kein anderes Projekt, das CO2 einfangen (capturen) und weiterverarbeiten wollte.
Die Dekarbonisierungsprojekte teilen sich in zwei Bereiche, in CCU- und CCS-Projekte. CCU steht für Carbon Capture Utilization und meint, dass CO2 captured und weiterverwertet wird. Das eben ist die Absicht von Kitzweger und der österreichischen Industrie.
Die CCS-Projekte (Carbon Capture Storage) andererseits verschwenden keine Idee auf Verwertung, sie wollen einfach CO2 abscheiden und lagern (Storage). Das genügt. Das abgeschiedene Kohlendioxid soll Off-Shore, d. h. unter dem Meeresgrund, in erschöpfte Gas- oder Öllagerstätten verpresst und endgelagert werden. Mission erfüllt, CO2 reduziert. Beim letzten Innovationsfonds waren vier der sieben ausgewählten Projekte ausschließlich solche CCS-Projekte. „Wir haben einen großen Schock erlebt“, sagt Kitzweger, „auf CCS zu setzen, mag eine Option sein, jedoch auf CCU komplett zu vergessen, erscheint etwas kurzsichtig.“ Und doch ist es geschehen. Was steckt dahinter?
Europa hat sich ein Ziel gesetzt (fit for 55), erkennt offenbar, dass es kaum eingehalten werden kann, und tut jetzt alles, um doch zu reüssieren. Atomstrom wird grün. CO2 am Meeresgrund zu versenken ist einfacher und schneller als über Kreislaufwirtschaft nachzudenken. Es müssen eben schnelle Lösungen in allen Sektoren her.
„Ich bin dennoch zuversichtlich“, sagt Kitzweger, „wenn heute etwa gesagt wird, dass zwei Prozent des Kunststoffs oder des Kerosins ohne fossile Basis hergestellt werden sollen, dann ist das nicht so wenig, wie es sich anhört. Da kommt ein Mechanismus in Gang. Dann entstehen Märkte und es lassen sich positive Business Cases rechnen.“ Was es natürlich braucht, ist die Investitionssicherheit. Die Politik muss sich selbst ernst nehmen und für regulatorische Stabilität sorgen. Sonst versenken wir bloß Kohlendioxid im Meer und Millionen von Euro und unsere Zukunft.