Was Leonardo da Vinci und modernes Marketing gemeinsam haben
Zum 500. Todestag Leonado da Vinci sind zahlreiche Ausstellungen und Publikationen dem bildnerischen und erfinderischen Werk dieses Künstlers und Universalgelehrten gewidmet. Der Mediendramaturg Christian Mikunda unternimmt an Hand dreier Beispiele den Versuch, den Einfluss Leonardos auf moderne Erlebniswelten und damit in Zusammenhang auf die „Ladendramaturgie“ aufzuzeigen.

Als Christian Mikunda einen kleinen verwunschenen Laden in Venedig betrat fiel ihm sofort etwas auf. Ein glühend rotes Tuch auf dem Kopf eines Mannes leuchtete aus dem Halbdunkel des Geschäfts. Seine geradezu hypnotische Wirkung entfaltete das Ölgemälde Jan van Eyks durch das überbelichtete Gesicht des Turbanträgers. Diese Abweichung registriert man nicht bewusst, sie führt jedoch dazu, dass man wie gebannt auf das Bild starrt. Wie in Trance kaufte er damals die exzellente Kopie und damit begann für ihn das Abenteuer der Hypnoästhetik. In der Londoner National Gallery entdeckte Mikunda die „Felsgrottenmadonna“ Leonardo da Vincis (1493). Leonardo benutzte denselben Effekt der Überbelichtung, nur noch viel deutlicher. Seine Madonna samt Engel hat eine extrem hell leuchtende Haut, die den Blick zwischen der unendlich tiefen Urzeitlandschaft im Hintergrund und den Personen in Vordergrund schweifen lässt.
Aufmerksamkeit durch Tabubruch
Sprung in die Gegenwart: Nicht weit vom Museum liegt im Eingangsbereich des Dover Street Market der skelettierte Schädel eines Tigers neben edlem Schmuck und Lederaccessoires. Ein Kunde steht davor und kann den Blick nicht wenden. Im Schaufenster von YMC liegt neben einem kleinen Tierskelett eine echte Holzprothese aus dem Ersten Weltkrieg. Im Laden selbst sind Kleidung und Taschen schick, doch der Blick wandert immer wieder zu jenem künstlichen Bein im Eingangsbereich. Für Leonardo und die verrückten Concept-Stores gilt das Gleiche: alle arbeiten mit gezielten Tabubrüchen, um den Zuseher aus dem Gleichgewicht zu bringen. Destabilization sagen die Hypnotherapeuten wie Jeffrey K. Zeig dazu. Wie durch einen Spritzer kalten Wassers ins Gesicht wird man seelisch geöffnet und wird begierig nach dem nächsten Strohhalm, um sich innerlich wieder zu stabilisieren. Das sind Bestandteile der schweren Geschütze, die der stationäre Einzelhandel auffährt, um sich gegen den Online-Handel zu wappnen.
Ein anderes Beispiel bei Leonardo: die Mona Lisa zieht den linken Mundwinkel höher als den rechten, und der Schatten in der linken Augenhöhle ist tiefer. Wir haben also zwei Mona Lisas in einem Bild und versuchen instinktiv, diese Dissonanz aufzulösen, wollen ergründen, was die junge Dame wohl denkt oder fühlt. Destabilization führt immer dazu, dass wir hinter etwas blicken möchten. So wird die Kommunikation vielschichtiger und tiefsinniger. Zeitgenössische Beispiele sind etwa die Schaufensterpuppen von Zara, bei denen eine Wimper auf die Wange heruntergerutscht ist oder die Kunstfigur Conchita Wurst. Warum wurde nun aber ein Renaissancemaler wie Leonardo zum Urvater des modernen Erlebnismarketings? Weil er durch seine anatomischen Studien und seinen Röntgenblick, der ihn die Flügelbewegungen der Libelle sehen ließ, ein Bewusstsein entwickelte, wie man den trägen Blick der Alltagsmenschen zum forschenden Renaissanceblick weiterentwickeln könnte. So schuf er Gemälde, die uns noch heute bewegen, und zeigte den Menschen, dass auch sie Mona Lisa sein können.
Spiegeleffekte damals und jetzt
Leonardo tüftelte aber auch an einem achteckigen Raum mit mannshohen Spiegeln, „der dem darin Stehenden eine unendliche Spiegelung der eigenen Person in alle Richtungen “ geboten hätte. Das Projekt scheiterte, weil man damals so große ebene Spiegel nicht herstellen konnte. Erst im 19. Jahrhundert war die Technik dafür so weit. Das markierte auch den Beginn der Spiegellabyrinthe. Dabei werden raumhohe Spiegel in einem Winkel von zumeist 60 Grad so angeordnet, dass man unendlich große Räume zu sehen glaubt, aber dabei ständig auf die Illusion scheinbarer Korridore hereinfällt und aufgekratzt im Labyrinth herumirrt: Irritation der Wahrnehmung. Heute werde solche Trance-Effekte mit Videowänden oder LED-Screens verbunden. Der italienische Pavillon während der Expo 2015 in Mailand, die LED Fassade von Casinos Austria in Bregenz oder des Uniqa-Gebäudes in Wien sind Beispiele für Trance-Effekte in der modernen Erlebnisgesellschaft.
Abendmahl und Kastner & Öhler
Da sitzen 13 Leute an einem Tisch und ganz offensichtlich ist das ein Wandfresko. Aber der Künstler Leonado da Vinci hat durch Zentralperspektive die perfekte Integration seines „Letzten Abendmahls“ in das Refektorium vor Ort geschafft, so dass man die Trägerwand des Bildes nicht registriert. Goethe bemerkte dazu „Es muss zur Speisestunde ein bedeutender Anblick gewesen sein, wenn die Tische des Priors und Christi als zwei Gegenbilder aufeinander blickten und die Mönche an ihren Tafeln sich dazwischen eingeschlossen fanden“. Leonardo war einfach das größte hypnoästhetische Genie aller Zeiten. Im Grazer Haupthaus von Kastner & Öhler hängen weiße Kokons aus einem fiberglasartigen Material im Halbdunkel von der Ecke herab. Ein Schlitz bei jedem Kokon ist schon geöffnet und durch diesen sieht man Modeartikel hängen. Zunächst ist der Kokon noch ganz geschlossen, dann öffnet er sich von Tag zu Tag ein wenig mehr und jeden Tag sieht man so auch mehr von der Ware, um die es eigentlich geht. Das Mysteriöse der Installation ist tatsächlich Teil des Visual Merchandising – dem In-Szene-Setzen von Ware im Einzelhandel. Trance, so scheint es, ist jetzt tatsächlich überall. So schließt sich der Bogen der in der Renaissance begann, heute in der modernen Ladengestaltung.
Buchtipp: „Hypnoästhetik“
Die ultimative Verführung in Marketing, Handel und Architektur von Christian Mikunda Erschienen bei: Econ Verlag 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen ISBN-13: 9783430202671