Erfolg ist nicht Erfüllung
Man kann vieles digitalisieren, Führung gehört aber laut Nicole Brandes nicht dazu. Die Schweizerin ist internationale Managementcoachin, sie fokussiert sich auf die menschlichen Aspekte im digitalen Wandel. Im Interview erklärt sie, warum gute Führungskräfte hart an sich arbeiten müssen, mit welchen Visionen sie ihre Mitarbeiter anstecken können und warum es ohne Werte nicht mehr klappen kann.
Sie werden als Topcoachin gehandelt und setzen sich für eine Zukunft ein, in der wir nicht nur digital, sondern auch menschlich aufrüsten. Was hat Sie an diesen Punkt geführt?
Meine unkonventionelle Karriere. Meinen ersten Job habe ich bekommen, indem ich einfach gesagt habe: Hier bin ich, ich kann alles lernen, was haben Sie für mich? Der HR-Manager der Swissair gab mir eine Chance, und so wurde ich die Delegierte der Konzernleitung. Neben dieser Tätigkeit habe ich auch den VIP-Club aufgebaut. Darin waren die ganzen Opinion- Leader der Welt versammelt. Wenn das World Economic Forum in Davos stattgefunden hat, gingen der Vorstandsvorsitzende, der CEO und ich hin. Das hat mich in ganz andere Sphären gebracht. Danach wurde ich immer abgeworben. Ich war dann stets in den Topetagen der Großkonzerne und wurde geholt, um neue Organisationen aufzubauen.
Welches zentrale Erfolgsrezept haben Sie aus der Beobachtung des Topmanagements und aus Ihrer Zeit in den Vorstandsetagen in die Beratung mitgenommen?
Am 2. September 1998 ist die Swissair 111 abgestützt, man hat mich mit Journalisten zur Absturzstelle gebracht. Wir konnten damals umgehend eine perfekte Ablauforganisation aufbauen, um alle Belange rund um diese Katastrophe zu managen. Mir ist aber eines klargeworden: Wenn wir die Menschen nicht emotional abholen, ist die ganze Organisation wertlos. Der Mensch muss im Zentrum stehen! Das hat mich dazu veranlasst, zukünftig immer ein eigenes Mission-Statement für die Teams zu erarbeiten, die ich aufgebaut habe. Ich wollte nicht nur Organisationsstrukturen schaffen, sondern ein Herz und eine Seele in die Unternehmung bringen.
Ist das auch heute Ihr zentrales Credo im Coaching?
Mein Credo ist: Starke Führung beginnt genau an einem Ort – bei sich selbst. Dabei geht es nicht um Fachexpertise, sondern um Selbstkompetenz. Sie beinhaltet Selbstkenntnis und Selbstführung. Das geht weit darüber hinaus, die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen. Es geht vielmehr darum, die eigenen Bedürfnisse, Werte und Emotionen zu erkennen. Sie machen schließlich das Leben aus. Daraus muss sich eine eigene Philosophie entwickeln: Wer bin ich, was ist mir wichtig, wo will ich hin? Das sind durchaus Fragen, an denen man sich die Zähne ausbeißen kann. Deswegen kann ein Coach an dieser Stelle so hilfreich sein: weil wir die Perspektive von außen liefern. Der Manager ist ja mitten im Geschehen.
Wenn es so zentral um die Persönlichkeitsentwicklung geht: Sehen Sie, dass tatsächlich der Raum da ist, um als Mensch in der Wirtschaft zu agieren?
Wir müssen diesen Raum schaffen. Der Fortschritt wird von der Technologie bestimmt, aber in der Gegenwart und in der Zukunft geht es ja um den Menschen und darum, wie wir das Leben verbessern. Wir brauchen also Führungskräfte, die den Fokus darauf haben, die Technologie zu nutzen und Menschen zu nützen, nicht umgekehrt. Ich denke auch, dass das Bedürfnis, gesamtheitlich als Mensch in der Wirtschaft agieren zu können, immer größer wird.
Im Geschäftsleben wurde viele Jahrzehnte hindurch Privates von Beruflichem getrennt. Gibt es überhaupt den Raum, um als Mensch in der Wirtschaft zu agieren?
Wir leben in einer entgrenzten Welt. Wir erleben alles gleichzeitig. Wir können alles skalieren, kombinieren und vermischen: Freizeit, Job, sogar die Lebensabschnitte. Die Digitalisierung hat die Rahmenbedingungen völlig verändert, und die Unternehmen und Manager müssen sich darauf einstellen. Die Technologie entwickelt sich schnell, aber die Grundbedürfnisse der Menschen bleiben die gleichen. Wir müssen begreifen, dass Führung nicht digitalisierbar ist. Aufgehobenheit, Zugehörigkeit, Sinn, gute Arbeitsbedingungen – diese Faktoren sind nicht digitalisierbar.
„Starke Führung beginnt genau an einem Ort – bei sich selbst.“
Wie muss eine taugliche Führung für dieses Spannungsfeld aussehen?
Wenn sich die Zeiten ändern, muss sich auch die Führung ändern. Eine taugliche Führung ist heute unglaublich gefordert. Sie muss nicht nur digital aufrüsten, sondern auch menschlich, weil sie allen Lebensmodellen, allen Hirarchiemodellen und allen Gleichzeitigkeiten gerecht werden muss. Manager sind gerade nicht zu beneiden: Sie müssen zu virtuosen Tausendsassas werden. Diesem Druck standzuhalten ist schwierig. Aber es schafft auch enorme Möglichkeiten.
Was raten Sie denn Ihren Klienten?
Als Coach ist meine Lösung, immer bei sich selbst zu beginnen. Ich habe mit unglaublich erfolgreichen Menschen zusammengearbeitet und gesehen, dass Erfolg kein Geheimrezept und kein Zufall ist. Es ist ein System. Wenn man gewissen Businessprinzipien folgt, kann jeder erfolgreich sein. Aber das hat noch nichts damit zu tun, dass einem die Menschen vertrauen, dass man sie ermächtigt, dass man einen sinnerfüllten Arbeitsplatz schafft. Rein wirtschaftlicher Erfolg und gute Führung sind zwei unterschiedliche Themen. Sie müssen sich also in aller Tiefe mit den sogenannten „People-Skills“ auseinandersetzen. Die lernen wir ja nicht im MBA.
Bedingt gute Führung nicht auch den wirtschaftlichen Erfolg in zunehmendem Maße?
Dieser Zusammenhang nimmt stetig zu. Wir müssen begreifen, dass diese Soft Factors die harte Währung der Zukunft sind. Es geht nicht nur um nette Phrasen über Empathie. Innere Entwicklung und Führung bedeuten ganz harte, einsame Arbeit. Dieser Herausforderung stellen sich auch viele der erfolgreichsten Menschen. Aus dem simplen Grund, weil sie merken, dass ihnen etwas fehlt. Denn Erfolg ist nicht Erfüllung. Damit man Erfüllung erlangt, darf man sich nicht davor scheuen, auch die innere Welt anzusehen. Und dazu braucht es auch Mut.
Auch den Mut offenzulegen, dass man an mehr glaubt als an Zahlen und Fakten?
Sehr viele Manager sehen das so und leben das auch. Natürlich ist ein Führungsansatz, der einen selbst so bewusst in den Mittelpunkt stellt, auch manchen suspekt, und sie tun es lieber als Esoterik ab. Der Mensch ist aber ein spirituelles Wesen. Wir haben einen Geist, der medizinisch nicht verortbar ist, und den müssen wir nähren, sonst verkümmern wir. Inspiration heißt ja auch „in spirit“, bei sich, sein. Zu diesem Selbst finden die Menschen über unterschiedliche Wege einen Zugang. Ob es der Glaube an Gott, Taoismus, Zen oder autogenes Training ist: Wir haben ganz unterschiedliche Instrumente, durch die wir mit uns selbst in Kontakt treten können. Das ist meines Erachtens nach ganz wichtig und zentral. Das machen auch Topathleten. Die innere Haltung ändert alles. Wenn ich den inneren Shift mache, handle ich nach außen ganz anders.
“Innere Entwicklung und Führung bedeuten harte, einsame Arbeit.“
Ein Unternehmen ist allerdings vermutlich nicht der geeignete Ort, um seine inneren Konflikte zu bearbeiten. Wo ziehen Sie denn die Grenze zwischen einer persönlichen Entwicklung, die das Unternehmen einbezieht, und einer Selbstverwirklichung, die dort nichts verloren hat?
Der Mensch ist ein komplexes, erratisches, irrationales Wesen – das macht ihn aus. Führungskräfte bringen sich deshalb in jedem Fall mit ihren persönlichen Themen und Herausforderungen ins Unternehmen ein. Die Frage ist dabei nur, ob sie es bewusst und mit dem Willen, an sich zu arbeiten, tun oder unbewusst.
Viele der gehypten Topunternehmer gelten als extrem schwierige Persönlichkeiten. Ist das ein Zufall?
Alle wirklichen Visionäre gelten als schwierig, weil sie andere dazu zwingen, in ganz neue Richtungen zu denken, und das ist für viele Leute eben sehr anstrengend. Und wir müssen klären, was wir unter „Leader“ verstehen. Denken Sie an Steve Jobs. Er war eine Lichtgestalt, ein Genie, dessen Visionen viele Menschen folgen konnten. Er wurde zum Superstar. Ein guter Leader muss aber kein Superstar, sondern ein Superleader sein: Er muss Menschen führen können.
Kann man das lernen?
Natürlich kann man das lernen. Die wenigsten werden als Leader geboren, sondern entwickeln diese Fähigkeit im Laufe ihres Lebens. Man kann und muss also daran arbeiten. Die innere Stabilität des Menschen, die eine gute Führung braucht, kommt meistens daher, dass wir an etwas glauben, dass wir einen Traum haben, eine Vision, an deren Umsetzung wir arbeiten. Sie gibt Kraft, und sie steckt an. Wenn es der Visionär schafft, Menschen mit seiner Vision zu bewegen, ist schon viel gewonnen.
Haben Sie ein Beispiel?
Es gibt diese herrliche Geschichte von John F. Kennedy, der durch die Gänge der Nasa ging und mit einem Mann sprach, der gerade den Boden geputzt hat. Er hat ihn gefragt, was er da mache. Und der Mann sagte: „I help to bring people to the moon.“ Das zeigt, wie stark sich Menschen mit Visionen identifizieren können. Daraus entsteht die Sinnhaftigkeit. Wenn uns aber Sinn und Ziel abhandenkommen, dann irren die Menschen herum und verkümmern. Das Ziel ist immer ein emotionales und weit mehr als eine Bilanzzahl.
Stichwort Emotionen: Sie werden immer wieder als Chief Emotion Officer bezeichnet. Brauchen Unternehmen diese Position aus Ihrer Sicht?
Dieser Titel und Varianten davon wurden mir immer wieder von Klienten und Chefs verliehen, was mich durchaus ehrt. Meine Assistentin trägt den Titel Chief Happiness Officer. Sie stellt sicher, dass es allen gutgeht. Solche Zielsetzungen sind wichtig und können nicht allein von Technologie erbracht werden.
Gibt es dafür auch KPIs?
Ja, natürlich. Immer mehr Unternehmen stellen Chief Happiness Officers ein, sogar Länder wie zum Beispiel Butan oder England haben solche Positionen und auch Messmerkmale beziehungsweise Indizes geschaffen.
Welche Werte benötigt das digitale Zeitalter?
Aufseiten der Werte geht es darum, dass man sich selber kennt und weiß, was für einen wertvoll ist. Nur wenn das klar ist, kann man entlang der Werte agieren und erheben, ob es passt oder nicht. Das ist allerdings ein Prozess. Man muss bereit sein, ständig iterativ zu lernen. Wir können nicht mehr sagen: Hier starten wir, dort kommen wir an. Man muss immer wieder adaptieren, und man muss Unsicherheiten aushalten können.
Wenn alles in ständiger Bewegung bleibt: Wie kann die Führung aus einer reaktiven in eine proaktive Handlungsweise kommen?
Das ist eine Frage der Führung. Wir brauchen eine Experimentier- und nicht nur eine Exekutionskultur. Der Umgang mit Wandel und Unsicherheit und die systematische Hinwendung zu Neuem muss integraler Bestandteil des Alltags und an oberster Geschäftsstelle sein. Das darf nicht in Abteilungen oder Projekte abgeschoben werden.
Die meisten Menschen lieben aber Veränderungen nicht besonders. Denken Sie, dass man alle Mitarbeiter in diese Kultur mitnehmen kann?
Die primäre Verantwortung von Führungskräften ist es, die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sicherzustellen. Dazu benötigen sie eine Crew. Sie müssen den Spagat schaffen zwischen einerseits den Wandel managen, weil er unumgänglich ist, und andererseits die Ängste der Menschen managen, weil das Veränderungen mit sich bringt. Das wird leider oft übergangen. Mit Veränderungen umgehen zu lernen ist aber nicht allein die Verantwortung des Chefs, sondern auch Aufgabe der Mitarbeitenden und Teil ihrer Marktfähigkeit.
Bekommen die Ideen von visionären Unternehmern in einer Zeit großer Herausforderungen wie dem Klimawandel noch mehr Bedeutung?
Absolut. Unternehmer sind nicht nur Gestalter der Wirtschaft, sondern der Gesellschaft. In diesem neuen Umfeld haben sie mehr denn je auch eine große soziale Verantwortung. Es gibt Kidpreneure, die tolle Vorbilder sind und deren Haltung mich mit Freude und Hoffnung erfüllt: Alina Morse war neun Jahre alt, als sie ihre Zollipops – gesunde Lutscher – erfunden hat. Das ist heute ein Riesenunternehmen. Mikaila Ulmer ist 13, Social Entrepreneur, und setzt sich mit ihrer Honiglimonade für Bienen ein. Oder Moziah Bridges, 15, entwirft Binde-Krawatten und hat seine eigene Charity. Alle drei wurden mit ihren Unternehmen Multimillionäre! Und es gibt noch viel mehr solche Beispiele.
Müssen auch klassische KMU solche sozialen Visionen entwickeln?
Unbedingt. Wer sich nicht weiterentwickelt, ist verloren. Auch hier gibt es tolle Beispiele, wie es gehen kann. Etwa die Rügenwalder Teewurst. Das war ein Wurstfabrikant. Sie sagen, der Fleischkonsum richtet die Welt zugrunde, und sie wollten daran nicht beteiligt sein. Sie sind heute einer der größten Produzenten veganer Produkte. Genial, oder?
Sehen wir hier einen echten Paradigmenwechsel, weg von der Gewinnmaximierung?
Gegen Gewinnmaximierung ist ja nichts zu sagen – solange sie nicht auf Kosten anderer geht. Das ist der Punkt, der heute zählt. Profit ist und bleibt das Blut in den Adern einer Unternehmung. Der Antrieb, oft auch „Purpose“ genannt, also warum eine Firma tut, was sie tut, ist aber heute ein wichtiges Werteangebot. Daran können sich Menschen in einer entgrenzten Welt orientieren und sich damit identifizieren. Dieser Purpose ist nicht einfach eine nette Modeerscheinung, er wird jetzt zum entscheidenden Erfolgsfaktor, zum Herzschlag der Firma.
Zur Person:
Nicole Brandes ist internationaler Management Coach und Autorin. Die ehemalige Managerin hat über 15 Jahre mit den Mächtigen und Einflussreichen der Welt gearbeitet. Neben strategischem Management, Kommunikation, Coaching und Multikulturalität hat sie acht Jahre bei chinesischen Großmeistern die Kunst der inneren Stärke studiert. Heute gilt sie als wichtige Denkerin der Zukunft und unterstützt Führungskräfte darin, nicht hart sondern stark und inspirierend in die Zukunft zu führen.
Getroffen haben wir sie am Österreichischen CSR-Tag. Der eintägige Unternehmenskongress dient als Impulsgeber und Informationsdrehscheibe für nachhaltiges Wirtschaften und lädt zu Austausch und Vernetzung ein. Durch internationale Key Note SpeakerInnen sowie intensive Workshop-Sessions werden globale Trends und Schwerpunktthemen zu Nachhaltigkeit und Verantwortung in der Wirtschaft aufgezeigt, bearbeitet und deren regionale Relevanz diskutiert. www.respact.at