Per Auftrag führen

Stephan Strzyzowski
09.05.2018

Die Digitalisierung verändert unsere Arbeitsweisen grundlegend. Geführt wird aber meistens noch nach alten Mustern. Woran das liegt, welche Strategien man sich vom Militär abschauen kann und warum es ohne Vertrauen nicht klappen wird, erklärt der Hidden-Champions-Experte Prof. Hermann Simon im Interview.

Dr. Hermann Simon
Dr. Hermann Simon

Aufgrund der Digitalisierung beschleunigen sich viele Prozesse, und der Arbeitsalltag wird zunehmend komplexer. Die Führungsmodelle scheinen diesem Umstand in der Praxis aber bisher kaum Rechnung zu tragen. Welche Art von Organisation und Führung braucht es jetzt? In der Organisation ist die Führungsspanne immer eine relevante Kerngröße. Sie beschreibt, wie viele Mitarbeiter eine Führungskraft direkt leiten kann. Im Schnitt sind es sieben bis acht. Man sagt, es sollten maximal 15 sein. Aus dieser Führungsspanne ergibt sich die Zahl der hierarchischen Ebenen. Und an genau dieser Stelle kommt die Digitalisierung ins Spiel.

Inwiefern? Ich will es an Donald Trump erläutern. Wenn man sieht, wie er über Twitter kommuniziert, wird klar, dass ein Chef heute ohne Aufwand und Kosten mit allen Mitarbeitern kommunizieren kann – und zwar ohne eine Zwischenebene zu benötigen. Egal wie viele Mitarbeiter es sind, egal wo sie sitzen, egal wann. Das spielt vor allem bei globalen Playern eine Rolle. Die Möglichkeit, von oben nach unten zu kommunizieren, hat sich durch die Digitalisierung also radikal verändert.

Wird diese Möglichkeit aber auch entsprechend genutzt? Und wurden dadurch auch Hierarchien abgebaut? Nur sehr teilweise. Ich glaube, dass man diesen Effekt der Digitalisierung insgesamt noch nicht wirklich verstanden und umgesetzt hat.

Warum nicht? Weil der Effekt nur in eine Richtung positive Wirkung zeitigt. Wenn der Chef alle leicht erreichen kann, ist das gut, umgekehrt funktioniert es aber nicht. Wenn Mitarbeiter aus der fünften und sechsten Ebene Mails an den Chef zu schicken beginnen, bekommt er tausende Mails pro Tag. Von unten kann also nicht mehr als bisher nach oben kommuniziert werden. Die Mitarbeiter müssen deshalb mehr Verantwortung übernehmen, was voraussetzt, dass auch mehr Verantwortung an sie delegiert wird. Und das ist für viele Führungskräfte ein Problem. Weil sie lieber nach dem Lenin’schen Prinzip „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ agieren.

Dennoch wird heute überall Selbstorganisation und Agilität gepredigt. Agilität ist ein großes Schlagwort, das stark overhypt ist. Aus meiner Sicht handelt es sich aktuell dabei um die Sau, die durchs Dorf getrieben wird. Worum es wirklich geht, ist die Kompetenz der Mitarbeiter. Die muss vorhanden sein beziehungsweise verbessert werden, wenn man an die Mitarbeiter mehr Verantwortung übertragen will. Sonst können sie ja keine Entscheidungen selbstständig treffen. Das Thema ist aber extrem komplex. Wir haben aufgrund der Digitalisierung einen größeren Informationsfluss und ständige Erreichbarkeit, aber die übrigen Aspekte, die das Verhalten und die Führung beeinflussen, sind natürlich nach wie vor notwendig. Es geht um Vertrauen und die Übernahme von Verantwortung. Auf diese Aspekte zahlt die Digitalisierung aber nicht ein.

Warum nicht? Wenn ich mit meinen Mitarbeitern nur noch per Mail kommuniziere, baut sich Vertrauen nicht so schnell auf, als wenn ich sie öfter persönlich treffe und auch kenne. Ich denke, dass hier sogar ein Kontereffekt der Digitalisierung zu befürchten ist.

Das ist aber vielfach gelebte Realität. Alles beschleunigt und dezentralisiert sich, weniger Führungskräfte müssen mehr Mitarbeiter leiten. Entsteht dadurch unweigerlich eine Schwäche in der Organisation? Ja, aber nur, wenn die Mitarbeiter das Vakuum nicht ausfüllen können. Es kann auch in die umgekehrte Richtung gehen. Im Idealfall sagen die Angestellten: Jetzt haben wir endlich mehr Entscheidungsspielraum und müssen nicht mehr wegen jedem Mist nachfragen. Dann können sie ihr Business machen, anstatt nur dauernd zu reporten. Diese Situation kann also entweder mehr Energie freisetzen oder Hilflosigkeit. So entsteht eine neue Führungsherausforderung.

Welche Lösungsansätze sehen Sie hier? Es gibt vom Militär kommend zwei verschiedene Führungsprinzipien: Das eine kommt von den Preußen: Führung per Auftrag, auf Englisch „Mission-oriented control system“. Der Vorgesetzte darf dem Untergebenen darin nur den Auftrag, die „Mission“ vorgeben. Etwa: „Besetze diesen Berg.“ Er darf ihm aber nicht vorschreiben, wie er das machen soll. Die Idee dahinter ist, dass ein Vorschreiben von Details den Handlungsspielraum desjenigen, der umsetzt, zu sehr einschränkt. Die Amerikaner haben ein anderes System: „Process-oriented control system“. Sie studieren und analysieren sehr detailliert die Situation und entwickeln dann einen genauen Prozess, der dem Ausführenden vorgegeben wird. Dieses System haben wir heute auch in vielen amerikanischen Unternehmen.

„Man muss den Mitarbeitern mehr Freiheit geben.“

Welches passt besser für die Herausforderungen der Zeit? Für mich ist das „Mission-oriented control system“ klar überlegen. Ein israelischer Militärhistoriker hat die Effizienz der Wehrmacht und der US-Armee im Zweiten Weltkrieg untersucht. Er kommt zum Ergebnis, dass die Wehrmacht um 52 Prozent effizienter war. Er führt das auf zwei Faktoren zurück: erstens auf das Führungssystem und zweitens darauf, dass die Kommandanten in der Wehrmacht näher an der Front waren.

Was lässt sich daraus ableiten? Ich denke, dass Führung durch Auftrag in einer immer dezentralisierteren Welt an Bedeutung gewinnt. Man muss den Mitarbeitern mehr Freiheiten geben, ihre Aufträge so zu erledigen, wie sie das für richtig halten. Es geht aber auch um die Arbeitsbedingungen und die Frage, wo Arbeit stattfindet. Arbeit ist letztendlich nicht, wo man ist, sondern was man tut. Das wird erst durch die Digitalisierung möglich, weil jetzt jeder an jedem Ort auf alle benötigten Informationen zugreifen kann. Das setzt aber voraus, dass man den Mitarbeitern traut. Und manchmal nicht einmal das. Oft reicht es ja einfach nur zu sehen, ob sie die Ergebnisse liefern.

Was beobachten Sie bei Weltmarktführern? Lassen Sie Ihren Mitarbeitern tendenziell mehr Freiheiten? Das ist sehr unterschiedlich und abhängig vom Mindset der Unternehmer. Manche lehnen es strikt ab und stellen die Mitarbeiter unter Generalverdacht, andere probieren es aus und sind erfolgreich. Es ist eine Frage der Unternehmenskultur und vor allem dessen, ob die Leistungen messbar sind. Was das Führungssystem insgesamt anbelangt, sind viele Weltmarktführer in den Grundfragen eher top-down organisiert. In der konkreten Detailausführung geben sie aber viel mehr Freiheiten als Großunternehmen. Es gibt eine klare Linie, wo es hingehen muss, aber Spielraum, wie. Die Hidden Champions praktizieren also Führung per Auftrag. In Konzernen herrscht dagegen eher das „Process-oriented control system“ vor.

Liegt das daran, dass sich jede Führungskraft ein wenig ihre Daseinsberechtigung sichern muss? Man sagt: Jede Ressource sucht sich ihre Arbeit. Man muss aber auch zugeben, dass es mit zunehmender Größe der Organisation mehr Standardisierung braucht.

In vielen Unternehmen ist die Digitalisierung noch ein Prozess, der vorwiegend nach innen gerichtet ist. Dabei kann sie stark auf die Beziehung zum Kunden einzahlen. Ein Fehler? Auf den Kundennutzen wird viel zu wenig geachtet. Ein Beispiel: Ich bestelle alles bei Amazon, und der Grund ist simpel – „one click“. Wenn ich bei der Deutschen Bahn eine Karte bestelle, muss ich 19 Klicks machen. Geht das nicht einfacher? Ich fahre fast immer dieselbe Strecke, und das weiß die Bahn. Wenn die meine Bedürfnisse ein bisschen verstehen würden, würde das Angebot für meine Standardstrecke aufpoppen wie bei Amazon. Die Bahn hat wenig Kundenverständnis, und das gilt aktuell im Internet für fast alle Unternehmen.

ZUR PERSON

Dr. Dr. Hermann Simon ist Autor zahlreicher Bücher und Gründer und Chairman von Simon-Kucher & Partners, dem Weltmarktführer in der Preisberatung. Seine Bücher über Hidden Champions sind zu Weltbestsellern geworden und in 26 Sprachen erschienen. Nach dem verstorbenen Peter Drucker wurde er zum einflussreichsten Managementdenker im deutschsprachigen Raum gewählt.

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