Der Einzelne würde das nicht tun
Leo Willerts Wertpapierfirma Arts ist ein Softwareunternehmen, das sich auf das Managen von Fonds spezialisiert hat – ohne Marktmeinung wohlgemerkt. Im Interview spricht er über die Bedeutung von Emotionen im Finanzbereich und erklärt, warum es schwer ist, künstlicher Intelligenz Anlageentscheidungen zu überlassen.
Ihr Unternehmen hat sich auf die Entwicklung von Handelssystemen spezialisiert. Diese sollen Anlageentscheidungen frei von Emotionen treffen, um positive Erträge zu generieren und Verluste zu begrenzen. Entscheiden damit Algorithmen, wo investiert wird?
Ja, das stimmt. Wir haben ein System geschaffen, das für uns die Märkte analysiert und Investmententscheidungen trifft. Und zwar ohne Emotion. Die Vorteile lassen sich gut am Aktienmarkt erklären. Aktien können steigen, aber auch abstürzen, und je tiefer der Fall ist, desto mehr muss man nachher wieder gewinnen. Wenn es einen Einbruch wie in der Krise 2008 gibt, in der der Weltaktienindex mehr als 50 Prozent verloren hat, ist das aber kaum zu schaffen. Die meisten Anleger können mit Verlusten in dieser Größenordnung psychologisch nicht umgehen und reagieren oft irrational und vorschnell. Wir versuchen mit unserem System große Verluste zu vermeiden und bei den positiven Entwicklungen und den stärksten Trends investiert zu sein. Dahinter steckt das Momentum-Prinzip.
Was besagt dieses?
Dass jene Sektoren und Regionen, die in der jüngeren Vergangenheit die relativ stabilsten Aufwärtstrends gegenüber anderen Märkten ausgebildet haben, die höchste Wahrscheinlichkeit haben, weiter gut zu performen.
Und wie kommt dieses Prinzip zur Anwendung?
Das System ermittelt laufend ein Scoring, welche der über 10.000 Investmentfonds, die wir in unserer Datenbank haben, gerade am stärksten performen und dadurch die größte Wahrscheinlichkeit auf weitere zukünftige Anstiege haben. Solange der Trend nach oben geht, bleiben wir investiert, sobald der Trend runtergeht, trennen wir uns von diesem Investment. Denn wenn Kurse sinken, kann es sehr schnell passieren, dass diese komplett nach unten rutschen. Dadurch können wir die Verluste rechtzeitig begrenzen und bei den Gewinnern investiert bleiben. Gesteuert wird das durch unser selbstentwickeltes Handelssystem.
Dafür müssen vermutlich extrem viele Positionen beobachtet werden, oder?
Ja, wir investieren in Fonds, die ganze Sektoren, Länder und Industrien abbilden, nicht in einzelne Unternehmen. Schlicht deshalb, weil es statistisch leichter vorhersagbar ist, wohin sich ein Fischschwarm bewegt als ein einzelner Fisch. Seit den Anfängen des Aktienhandels hat sich gezeigt, dass immer wieder einzelne Technologien, Länder oder Regionen die Märkte für eine gewisse Zeit dominieren. Zur Zeit des Eisenbahnbaus in den USA war etwa das Thema Railroad dominierend. 25 Prozent der Aktien im Dow Jones waren Ende des 19 Jahrhunderts Eisenbahnaktien. Heute ist keine einzige mehr im Index vertreten. Heute dominieren Titel wie Apple. Ende der 90er waren es dot.com-Unternehmen. Diese Booms versuchen wir mit unserem Modell zu identifizieren und investieren in diese, solange sie laufen. Wenn Trends enden, muss man sich rechtzeitig zurückziehen.
Und diese Entscheidungen trifft ein Algorithmus aufgrund von Big Data?
Es ist so, dass bei einem strikt quantitativen Handelsansatz jeder Parameter im System in einem Backtest- Verfahren getestet wurde, ob er über eine statistisch signifikante Anzahl von Fällen funktioniert hätte. Wenn man im Gegensatz dazu als Fondsmanager nur aus dem Bauch entscheidet, weiß man später nicht, welcher Teil des Regelwerks, das man anwendet, für welchen Teil der Performance verantwortlich ist. Man weiß nicht genau, was besser gewesen wäre. Mit einem quantitativen Handelssystem kann man es simulieren und testen. Nur Regeln, die bewiesen haben, dass sie unter wissenschaftlichen Testbedingungen funktionieren, werden Teil des Handelssystems.
Sie sagen also, dass die Verluste durch den Faktor Mensch entstehen, durch emotionale Entscheidungen, ausgelöst durch Angst oder Gier. Lässt sich das somit komplett ausschalten?
Ja. Man muss allerdings verstehen, dass Emotionen ein ganz wesentlicher Treiber der Märkte sind. Wie sie sich auswirken, hat man intensiv im Bereich der Behavioral Finance erforscht. Dabei haben sich vor allem zwei Dinge gezeigt. Erstens: Menschen neigen dazu, auf negative Nachrichten übertrieben zu reagieren. Zu einer Aktie kommen negative Berichte, und die Leute verkaufen den Titel in der Folge mehr, als gerechtfertigt wäre, und die Preise fallen unter ihren tatsächlichen Wert. Davon, nach so einem Sell-off günstig einsteigen zu können, leben Value-Investoren wie zum Beispiel Warren Buffett. Im Gegensatz dazu basiert der Momentum-Effekt darauf, dass Menschen dazu neigen, positive Nachrichten unterzubewerten. Auf diesen Effekt zielt unser Handelssystem ab. Darauf, dass die Marktteilnehmer die positiven Nachrichten noch nicht vollständig eingepreist haben, wenn der Markt steigt. Wir kaufen also erst dann in den steigenden Markt, nachdem sich bereits der Aufwärtstrend zu etablieren begonnen hat.
So wie alle jammern, dass sie vor ein paar Jahren Bitcoin oder Apple-Aktien hätten kaufen sollen, und dabei übersehen, dass die Preise noch immer steigen?
Genau. Die Frage lautet immer: Wann wäre es gut gewesen zu investieren und wann hätte man die Reißleine ziehen müssen? Das ist gewöhnlich eine Bauchentscheidung. Aber wenn man systematisch eine statistisch signifikante Zahl von Trades analysiert, kann man sagen, wie hoch der prozentuelle Anteile an Gewinntrades gewesen wäre, wie hoch der Anteil der Verlusttrades, wie hoch der durchschnittliche Gewinn bzw. Verlustrade gewesen wäre und was man in Summe mit diesem Handelsansatz verdient oder verloren hätte. Diese Erkenntnisse kann ein Algorithmus auf die zukünftigen Handelsentscheidungen übertragen.
Die Realwirtschaft ist aktuell einerseits von Hochkonjunktur, aber auch von Unsicherheiten wie dem Handelskrieg geprägt. Wie wirkt sich dieses Spannungsfeld auf die Finanzmärkte aus?
Spannend ist, dass die Finanzmärkte solche Entwicklung eher vorwegnehmen, als dass sie darauf reagieren. Sie preisen immer die Hoffnungen und Erwartungen für die Zukunft ein. Sie produzieren also einen Crash, noch bevor er in der Realwirtschaft stattfindet. 2008 war er auch zuerst in der Finanzwirtschaft spürbar und erst 2009 dann bei den Unternehmen.
Würden sich solche Crashszenarien verhindern lassen, wenn weniger Menschen und mehr Algorithmen im Spiel wären?
Nein, ich denke nicht. Jeder Marktteilnehmer kann direkt oder indirekt den Marktpreis beeinflussen. Auch trendfolgende Fonds können Trends an den Märkten verstärken. Ein Beispiel: In Indien läuft es gut, die Systeme erkennen das und stecken Geld in Indien, damit steigen die Aktienmärkte weiter. Der Zeitpunkt, an dem ein Markt zu seinem Wert kommt, wird dadurch verkürzt. Das führt dazu, dass Märkte, die hoffnungsvoll sind, schneller zu Kapital kommen und in Summe effizienter werden. Auch Technologien bekommen schneller Geld. Aber auch eine Überhitzung erfolgt rascher. Wir versuchen, dies bestmöglich zu vermeiden, dies ist Bestandteil unserer Anlagephilosophie, um vor allem kleinere Kapitalmärkte nicht in die eine oder andere Richtung zu treiben.
Wie funktioniert die Auswertung der Daten zur Analyse der Trends?
Die zentrale Aufgabe liegt darin, sich vom Datenmüll zu trennen. Wir versuchen, die wenigen verlässlichen Daten, die eine Aussagekraft haben, herauszufiltern. Das meiste ist aber leider Noise: unbedeutendes Rauschen.
Das klingt, als wäre Ihr Unternehmen kein klassisches Investmenthouse, sondern ein Tec-Start-up.
Das trifft es irgendwie. Wir sind wirklich eher ein Softwareunternehmen, das sich auf das Managen von Fonds spezialisiert hat. Es gibt niemanden bei uns, der eine Marktmeinung hat. Wir lösen uns von unseren Ansichten über die Märkte vollkommen. Unser Handelssystem agiert ausschließlich auf evidenzbasierten Parametern, die unter wissenschaftlichen Bedingungen evaluiert wurden. Die Herausforderung dabei ist, nicht ins System eingreifen. Nämlich nicht den Broker anzurufen und Verkäufe zu tätigen nur weil Trump die Wahl zum US-Präsidenten gewinnt.
„Emotionen sind ein ganz wesentlicher Treiber der Märkte.“
Werden durch den Einsatz autonomer Systeme in Zukunft die extremen Ausschläge geringer?
Grundsätzlich neigen die Märkte dazu, effizienter zu werden. Allerdings ist der Unterschied zwischen einem Markt, der effizient ist, und einem, der es meistens ist, und anderen, die es gar nicht sind, gigantisch. Solange Menschen am Markt agieren, werden emotionale Muster vorkommen. Ein Crash ist ja nichts anderes als eine Massenpanik. Das ist oft nicht nachvollziehbar. Der Mensch verhält sich einfach in der Gruppe anders, als er es allein tun würde. Alle rennen einander nieder. Der Einzelne würde das nicht tun. Aber das ist die Dynamik der Gruppe.
Was glauben Sie: Wie sieht die digitalisierte Zukunft des Finanzsektors aus?
Aktuell sind rein quantitative Handelssysteme noch Exoten. Sie sind in der Minderzahl, im Promillebereich. Es gibt aber manche Bereiche, etwa bei den Futures- Märkten, wo 50 Prozent vom Volumen über solche Systeme getradet werden.
Mit welchem Effekt?
Auch die Maschinen stehen in einem Wettkampf zueinander. Wer den besseren Ansatz hat, ist effizienter. Es gibt sogar Bereiche, die nur über Maschinen getradet werden: Highfrequency Trading. Ich glaube, dass der Bereich quantitativer Handelsstrategien in Zukunft zunehmen wird. Viele Firmen arbeiten entsprechend intensiv an quantitativen Ansätzen, vor allem auch AI-Lösungen. Die Herausforderung ist aber die, dass ein AI-Ansatz eo ipso eine Blackbox ist. Man weiß ex post nicht, warum das System welche Entscheidung getroffen hat. Es ist psychologisch schwierig, dem zu vertrauen. Wenn ein Fonds, in dem man investiert ist, schlechte Entscheidungen trifft, die kein Mensch nachvollziehen kann, wird man einfach unrund.
Kann AI in Zukunft zu mehr Wohlstand für alle Menschen führen? Oder basiert unser Finanzsystem zu sehr auf dem Prinzip, dass jemand verlieren muss, damit jemand anderer gewinnen kann?
Das tut es eben nicht. Das ist ein Irrglaube! Das Konstrukt der AG ist eine Errungenschaft der französischen Kommunisten. Es geht nicht auf Kapitalhaie zurück. Über das Konstrukt der AG wollte man der Bevölkerung die Möglichkeit geben, an der Entwicklung von Unternehmen zu partizipieren. Alle Einwohner sollten am Kapitalmarkt teilhaben. Das ist fast ein sozialistischer Ansatz. Es ist mir darum unverständlich, warum immer wieder sozialistische Politiker erklären, dass sie nie eine Aktie hatten. Das ist für mich nicht nachvollziehbar, da das Konstrukt ja für ihre Klientel erfunden wurde. In Österreich liegen hunderte Milliarden seit vielen Jahren nahezu ertragslos auf Sparbüchern und Festgeldkonten herum, hätten aber locker sechs Prozent Rendite erwirtschaften und dem Staat dadurch viele Milliarden an KESt einbringen können.
Liegt die mangelnde Teilhabe am Finanzmarkt daran, dass er einfach zu kompliziert ist?
Es entspricht nicht unserer Kultur. Und es ist kompliziert. Die Leute probieren es einmal, verbrennen sich die Finger und machen es dann nicht mehr. Darum versuchen wir auch, die Verluste weitgehend zu reduzieren, um den Anlegern die Angst vor Fondsinvestments zu nehmen.