Es geht um alles!
Der Historiker Philipp Blom zeichnet ein alarmierendes Bild: Um einen Kollaps von Umwelt und Gesellschaft zu verhindern, müssen wir unser Leben sofort radikal ändern. Was dazu geführt hat, dass nun wirklich alles auf dem Spiel steht, warum bewaffnete Konflikte in Europa wieder möglich sind und worin trotz allem eine Chance auf ein besseres Leben für alle steckt – ein Gespräch mit bitterem Nachgeschmack.
In Ihrem vielbeachteten Buch „Was auf dem Spiel steht“ analysieren Sie, wie Klimawandel, Digitalisierung und Migration unsere Welt verändern. Dabei ziehen Sie als Historiker auch laufend Parallelen zur Vergangenheit. Wiederholt sich gerade wieder ein Stück der Geschichte, oder steht unsere Gesellschaft tatsächlich vor nie da gewesenen Herausforderungen?
Geschichte wiederholt sich nicht. Die Welt ist zu komplex. Es gibt aber natürlich gewisse Parallelen. Wenn etwa zu viele Menschen von Demokratie ausgeschlossen sind, gerät sie ins Wanken. Das war bei der Weimarer Republik so, und es könnte nun wieder so kommen. Jetzt stehen wir allerdings an einem ganz neuen Scheitelpunkt.
Was ist aus Ihrer Sicht jetzt so fundamental anders?
Steigende CO2-Werte haben eine Situation geschaffen, die es seit mindestens vierhunderttausend Jahren nicht gegeben hat. Das Wetter wird immer extremer, daraus resultieren weitreichende politische und wirtschaftliche Konsequenzen. Und: Das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Daraus wird sich eine neue Wirklichkeit ergeben, und wir wissen nicht, welches Gesicht sie haben wird.
Worauf tippen nun Sie?
Dass die Lage sehr unstabil wird. Landwirtschaftliche Gebiete verschieben sich um hunderte Kilometer über Landesgrenzen und Besitzgrenzen hinweg und entziehen zahllosen Menschen die Lebensgrundlage. Es wird zu Konflikten um Wasser und Land kommen, der Meeresspiegel wird steigen. Daraus werden Kriege und Massenmigration entstehen. Die Lage wird so komplex werden, dass die Veränderungen ganze Gesellschaften erfassen werden, und in einer globalisierten Welt heißt das, auch unsere. Dazu kommt eine zweite Veränderung: die Erfindung der universellen Maschine.
Sie sprechen von künstlicher Intelligenz?
Ja, es wird in absehbarer Zeit Maschinen geben, die alles tun können – selbstständig, unabhängig und lernend. Künstliche Intelligenz ist schon bald nicht nur leistungsfähiger als der Mensch, sie kann auch Problemstellungen mit Lösungsstrategien angehen, die keinem Menschen eingefallen wären und die wir nicht nachvollziehen können. Das kann die Apokalypse bringen oder völlig neue Chancen eröffnen.
Um den Titel Ihres letzten Buches aufzugreifen: Was steht denn angesichts dieser Aussichten auf dem Spiel? Und woran liegt es, dass die Diskussion bisher nur so halbherzig geführt wird?
Einfach alles! Das Überleben unserer Spezies an sich, die Zivilisation. Mit Sicherheit das Bestehen der Demokratie. Aber auch die Menschenrechte. Das ist ein Dilemma, das sich ja bereits jetzt abzeichnet. Denken Sie nur an das Thema Migration. Ein ungelenkter Zuzug nach Europa ist nicht möglich, aber eine Festung Europa, eine riesige Gated Community der globalen Reichen wäre das Ende der Menschenrechte. Doch hier zeigt sich schon eine Bruchlinie, die unsere Demokratie über Gebühr belastet. Umso mehr Menschen wir ins Land lassen, umso mehr schadet es der Demokratie. Denn es beflügelt radikale Parteien, die der liberalen Demokratie sehr kritisch gegenüberstehen.
Ist unser Fundament so schwach, dass dadurch die Demokratie selbst in Gefahr gerät?
Ich denke schon. Denn eines kommt jetzt noch dazu. Metastudien von Umfragen zeigen: Je jünger Menschen sind, umso weniger Wert legen sie auf Demokratie. Alte Menschen, die Diktaturen und Krieg kannten, finden sie sehr wichtig. Die Jungen sind Alternativen gegenüber wesentlich offener. Auf der anderen Seite steht die Tatsache, dass Menschen heute vielleicht an einer Grenze erschossenen werden, damit wir in Demokratie leben können. Oder dass wir Diktatoren dafür bezahlen, die das jenseits unserer Grenzen tun. Da durchzunavigieren wird nicht nur moralisch schwierig sein.
Ausgangspunkt dieser düsteren Entwicklungen ist vielfach der Klimawandel, und das ist heute auch weithin bekannt. Woran liegt es, dass die Diskussion trotzdem nur so halbherzig geführt wird?
Weil wir im Grunde alle wissen, dass das Leben, wie wir es führen, keine Zukunft mehr hat. Es ist klar, dass es kein unendliches Wachstum geben kann, dass steigender Ressourcenverbrauch mehr Umweltbelastung und mehr Klimawandel bedeutet, dass auch Effizienzsteigerungen nicht mehr reichen werden. Die Ungerechtigkeit zwischen unserem und dem Leben anderer Menschen ist manifest. Wir sind reich, weil andere arm sind. Es dringt durch, dass Flugreisen die Umwelt belasten. Konsequenzen zu ziehen hieße, dass wir vieles nicht mehr tun können. Man müsste das eigene Leben wirklich verändern.
„Der Klimawandel und seine Folgen sind Fakt, Punkt.“
Aber Politiker, die mit entsprechenden Ansagen auftreten, werden abgewählt. Ist das der Grund?
Ich bin skeptisch bei Politikerschelte, die haben wir dort hingesetzt, Politiker reagieren ganz marktwirtschaftlich nur auf das, was wir hören wollen. Die Debatte muss sich jetzt aber rasch verbreitern und die ganze Gesellschaft erfassen, alle müssen sich bewusst werden, dass niemand Garantien abgeben kann. Der Klimawandel und seine Folgen sind Fakt, Punkt. Wir haben nur eine Wahl: Entweder wir müssen uns mit den schrecklichen Konsequenzen abfinden, oder wir reagieren jetzt konstruktiv.
Sie haben in Ihrer Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele gesagt, dass Angst das vorherrschende Gefühl unserer Zeit ist, weswegen viele Menschen nicht mehr mutig und liberal denken können. Wer Ihr Buch liest, wird allerdings auch nicht gerade mit Optimismus geflutet. Die Faktenlage, die Sie ausrollen, zeigt fast unweigerlich in Richtung, Krieg, Massensterben, Verelendung und Konflikte. Ist vielleicht gerade die Angst vor diesen Konsequenzen nötig, um Verhaltensänderungen zu erwirken?
Ich habe das Buch geschrieben, um die Menschen mit den Fakten zu konfrontieren. Hier ist etwas, das uns zwingt zu handeln. Aber jede Tatsache kann man sehr unterschiedlich interpretieren. Deswegen leugnen viele noch, dass es passiert. Leider wird es dadurch extrem schwierig, einen handlungsfähigen politischen Konsens herzustellen, wenn sich niemand mehr der Faktenlagen beugen muss. Denken Sie nur an Trumps Regierung und deren alternativen Fakten.
Die Menschheitsgeschichte ist bis zum heutigen Tag gepflastert mit Krieg, Elend, aber auch mit großen Ideen. Was können, was müssten wir jetzt aus der Historie lernen?
Es gibt Muster. Die Nachkriegszeit haben zwei Generationen von Politikern bestimmt, die gemeint haben, es sei wichtig, eine soziale Marktwirtschaft und eine relativ starke Umverteilung zu haben, um ein neues Weimar zu verhindern. Frieden galt ihnen als wichtigstes Gut. Sie waren überzeugt, dass Vernetzung und Zusammenarbeit gegen Nationalismus helfen, der den Krieg beschert hat. Nun ist eine Politikergeneration am Ruder, für die der Krieg nur eine ferne Erinnerung ist, sie haben nicht die gleichen Reflexe. Dadurch werden neue Dinge möglich, und es sind nicht nur positive. Bewaffnete Konflikte sind in Europa wieder möglich. Das liegt auch daran, dass die künstliche Klammer des Wohlstands in der Nachkriegszeit zu Ende geht.
Welche Rolle spielt denn aus Ihrer Sicht die wirtschaftliche Entwicklung für das Gedeihen der Gesellschaft?
Wirtschaft ist wichtig. Sie bietet eine Matrix für pluralistische Gesellschaften. Sie hat einen enormen Einfluss auf die Entwicklung unserer Gesellschaft. Ein Beispiel: Als sich weltweit immer mehr Unternehmern entschlossen haben, ihre Standorte in billigere Länder zu verlagern, wollten sie einfach profitabler werden. Das hat aber de facto zum Zusammenbruch der Arbeiterklasse in Europa geführt. Die Arbeiterklasse ist heute keine organisierte Schicht mehr, die eine echte Bedeutung für die Produktion hat und über Gewerkschaften und Parteien eine Stimme in der Gesellschaft bekommt. Damit hat eine wirtschaftliche Entscheidung die Gesellschaft unglaublich beeinflusst. Wirtschaft ist etwas, das notwendig ist. Aber sie ist kein Raum, der abgeschieden ist von der Gesellschaft.
Wo steuert die Wirtschaft aus Ihrer Sicht die Gesellschaft gerade hin?
Das ist schwer abzusehen. Aber sicher ist, dass die Demokratien der Nachkriegszeit unter künstlichen Bedingungen gelebt haben. Sie standen unter dem Eindruck des Krieges, und es gab enormes Wachstum. Auch die Gesellschaften waren homogener. Der ansteigende Erdölverbrauch hat uns die demokratische Gesellschaft bezahlt. Wer sich angestrengt und gearbeitet hat, konnte etwas erreichen. Das ist heute für viele Menschen, auch für gutausgebildete, nicht mehr wahr. Die wirtschaftliche Ungleichheit wächst stark an. Das ist frustrierend. Wenn man sieht, dass die reichsten 500 Menschen allein im letzten Jahr um eine Billion reicher geworden sind, während die Facharbeiterlöhne seit 40 Jahren stagnieren, muss man zu dem Schluss kommen: Das ist nicht gut für die Demokratie. Wenn zu viele erkennen, dass das System nicht für sie arbeitet, sehen sie sich nach anderen Systemen um.
Ist damit vielleicht eine Zeit gekommen, in der Menschen wieder mehr Interesse an Politik aufbringen, sich wieder mehr als Bürger, denn als Konsumenten betrachten?
Das Problem liegt darin, dass die Menschen aktuell ängstlich sind. Das macht sie aggressiv und nicht konstruktiv. Wir müssen deshalb wieder Hoffnung in der Gesellschaft schaffen. Dafür benötigen wir aber ein Modell, das Zukunft hat. Eine Wirtschaft, die wachsen, aber auch schrumpfen kann, ohne zusammenzubrechen, und die keinen Raubbau treibt, die hätte das. Wir benötigen ein System, das darauf basiert, wie nützlich jemand für die Gemeinschaft ist. Es muss so nachhaltig sein, dass es noch länger bestehen kann. Erst dann können sich soziale Hoffnungen ausbilden, sodass wir in offenen Gesellschaften leben, dass man den Hyperkonsum nicht braucht.
Aktuell scheint die Welt im Westen grob gesprochen in zwei Lager geteilt zu sein: Die einen setzen auf Abschottung, die anderen auf Öffnung. Wie sind diese Strategien in der Vergangenheit aufgegangen? Wie könnte eine neue Gesellschaftsordnung aussehen, die beide Bedürfnisse vereint?
Es geht nicht einmal mehr um den einen, richtigen Ansatz. Es gibt mittlerweile Probleme, die keine Lösung haben. Wir müssen begreifen, dass unsere Herausforderungen kein Mathebeispiel sind, wo man neben dem Ist-Zeichen die richtige Antwort einträgt. Eine Lösung gibt es häufig nicht, es gibt nur konstruktive Strategien. Und die klappen einmal besser, einmal schlechter, und man sie muss permanent adaptieren. Denken Sie nur an die Migration, wo es das ewige Problem der berechtigten Ansprüche gibt. Natürlich darf man um sein Leben laufen und versuchen, ein besseres aufzubauen.
Liegt die Ursache aller aktuellen Probleme vielleicht schlicht in der Anzahl der Menschen auf unserem Planeten?
Die Überbevölkerung ist ein Problem, aber die Geburtenraten beginnen zu sinken. Zudem könnten wir mit der Landwirtschaft weit mehr Menschen ernähren, wenn das die Priorität wäre. Wir leben im Westen so, dass wir vier Planeten bräuchten, wenn alle Menschen auf diesem Niveau leben würden. Projektionen gehen davon aus, dass die Weltbevölkerung nur noch bis 2050 wachsen wird.
Aber wie die Erde dann aussieht, will man sich lieber nicht vorstellen.
Natürlich wäre es für den Planeten am besten, wenn es nur 500.000 von uns weltweit gäbe, das würde ungefähr unserer Größe als Säugetier entsprechen, das werden wir aber nicht erreichen. Das ist ein Problem. Denn die Bevölkerungsexplosion schaukelt sich mit dem Klimawandel auf.
Wie kann eine gemeinsame Zukunftshoffnung, die jede Demokratie als Bindeglied ihrer Bürger braucht, angesichts dieser Prognosen aussehen?
So düster manche Entwicklungen auch sind, es gibt auch Lichtblicke, etwa durch die Digitalisierung der Arbeit. Wir stehen jetzt zum Beispiel vor der Möglichkeit, eine Gesellschaft zu schaffen, die es noch nie gegeben hat. In der wir uns nicht mehr über Beruf und Verdienst definieren müssen. Diese Gelegenheit gab es noch nicht. Das ist ganz tolle Chance. Eine Gesellschaft, die zum ersten Mal damit bricht, dass wir Lohnsklaven sein müssen. Die uns vor die Frage stellt, was wir tun wollen.
Wie das?
Weil in Zukunft hochintelligente Maschinen unser Überleben absichern werden. Für viele Menschen wird das heißen, dass sie ihren Lebensunterhalt gar nicht mehr verdienen können und ein Grundeinkommen brauchen, und das könnte unsere Gesellschaften transformieren. Wenn es keine Not mehr gibt und man Nein zu einem Job sagen kann, dann kann man seine Zeit auch anders nutzen. Das kann damit finanziert werden, dass alle Arbeit besteuert wird, auch die von Maschinen. Dadurch wäre ein völlig neues Gesellschaftssystem möglich. Wir können eine gerechtere, bessere, kreativere Gesellschaft schaffen, als wir sie jemals hatten. Wir müssen nur den Arsch hochbringen und anfangen.
Die Idee, den Faktor Arbeit weniger zu besteuern und dafür massiv umzuverteilen, ist nicht gerade neu. Was hält uns davon ab, etwas zu ändern?
Die Illusion der Normalität! Das Denken, dass alles so bleiben muss, nur weil es jetzt so ist. Die Welt hat sich immer wieder stark verändert. Wir könnten ganz anders leben, wenn wir uns eine andere Welt erdenken würden. Wenn wir glauben, dass es auch anders funktionieren kann. Man könnte bremsen oder abbiegen, wenn man mit hundert auf eine Klippe zufährt. Und es muss klar werden, dass man nicht zwangsläufig auf der Autobahn weiterfahren muss.
BUCHTIPP
Buchtipp: Philipp Blom – Was auf dem Spiel steht
Der Historiker, Buchautor und Vordenker analysiert die gegenwärtigen Umbrüche unserer Gesellschaft und skizziert, wie Wirtschaft und Gesellschaft den Herausforderungen von Digitalisierung, Klimawandel und Migration begegnen sollten – Hanser Verlag. auch im Lichte historischer Ereignisse